Tabuthema Cybermobbing
»Matthias, ich brauche deine Hilfe! Heute hat ein Viertklässler auf der Jungentoilette einen anderen Mitschüler mit seinem Handy gefilmt und angedroht, die Filme auf YouTube hochzuladen! Wie soll ich damit umgehen? Wie soll ich das ganze Thema mit den Kindern besprechen? Wie kommuniziere ich das mit den jeweiligen Eltern? Muss ich den Vorgang der Behörde melden? Ich will auf keinen Fall, dass das noch einmal passiert. Ich will aber auch nicht, dass der Täter bei diesem sensiblen Thema öffentlich in Misskredit gerät und noch lange die Konsequenzen tragen muss für diese spontane Dummheit. Ich habe Angst, dass unsere wunderbare Schule nun durch diese eine in ein schlechtes Licht gerät. Was kann ich jetzt tun?«
Meine Kollegin aus dem Süden der Republik ist sehr aufgewühlt, als sie mich eines Abends anruft. Sie schämt sich und bittet mich mehrmals darum, dieses Anliegen diskret und vertraulich zu behandeln. Sie möchte das Thema weder unter den Teppich kehren noch überdramatisieren und hofft, gute Impulse zu erhalten für ihre nächsten Schritte. Es tröstet sie, als ich ihr schildere, dass sie bei diesem Thema nicht alleine ist. Ich kenne viele Grundschullehrkräfte, die mit ähnlichen Themen zu tun haben: Grundschulkinder, die Pornos gucken. Grundschulkinder, die sich im Klassenchat oder in anderen virtuellen Räumen öffentlich schlecht äußern über Mitschülerinnen und Mitschüler, Lehrkräfte oder andere Personen. Grundschuleltern, die ohne Scheu Fotos von den eigenen nackt badenden Kindern auf Facebook posten und von anderen Eltern darauf angesprochen werden, aber nichts daran ändern wollen: »Die Fotos sehen doch nur unsere Facebook-Freunde! Da passiert doch nichts!« Lehrkräfte, die erleben, dass Eltern in der WhatsApp-Elterngruppe Stimmung machen gegen Personal der Schule, gegen andere Eltern oder auch gegen einzelne Kinder, anstatt sich mit den beteiligten Personen ehrlich und konstruktiv im »Reallife« auseinanderzusetzen. So wird bewirkt, dass die geschilderten Probleme in der »Anonymität« des Klassenchats ungehindert von einem kleinen Feuer zu einem größeren Flächenbrand anwachsen, was viel Verunsicherung und Vertrauensverlust hervorbringt und das Miteinander nachhaltig belastet.
Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend beschreibt Cybermobbing wie folgt : »Unter Cyberbullying oder Cybermobbing versteht man die Beleidigung, Bedrohung, Bloßstellung oder Belästigung von Personen mithilfe von Kommunikationsmedien, beispielsweise über Smartphones, E-Mails, Websites, Foren, Chats und Communities.«
Seit Jahren ist das Thema publik, häufig im Kontext der Altersstufe Erwachsene oder auch in Bezug auf Jugendliche. Aber schon in der Grundschule? Hat das nicht noch Zeit für später? »Das jetzt auch noch?«, denken vielleicht einige Grundschullehrkräfte, die sich mit den Themen Individualisierung, Inklusion, Digitalisierung sowie Corona schon genug im schmerzhaften Themenspagat erleben. Wäre es nicht besser, man schweigt über dieses »heiße Eisen«, um das Thema dadurch nicht unnötig größer zu machen?
Was man gegen Cybermobbing tun kann
Wie soll man mit Cybermobbing im Grundschul-Rahmen am besten umgehen? Hier gehen die Meinungen und Einschätzungen von Lehrkräften und Eltern teilweise deutlich auseinander. Ich habe versucht, die Fülle meiner Gedanken in einigen Rubriken zu ordnen:
1) Wachsam sein
Wenn ich weiß, dass Cybermobbing potenziell auch vor den Schülerinnen und Schülern meiner Grundschulklasse nicht halt macht, kann es hilfreich sein, durch ein starkes Beziehungsangebot und ein offenes Ohr »nah dran« zu sein an den Themen der eigenen Klasse. Im Gespräch mit dem Kollegium können wir gemeinsam ausloten und diskutieren, wie bedeutend oder auch dramatisch eine Erfahrung oder ein Vorfall aktuell ist. Gibt es einzelne Situationen, die eventuell auch im Kreis der Betroffenen gelöst und geklärt werden können? Welche Themen sind jedoch so elementar, dass ein allgemeines Gespräch nötig scheint? Wie finden wir in Bezug auf diese Themen einen kollegialen Konsens?
2) »Ganzheitliche Medienkompetenz«
Im Rahmen des Digitalpakts Schule haben sich die teilnehmenden Schulen verpflichtet, sich des Themas Medienkompetenz anzunehmen. Diese Kompetenz geht jedoch deutlich weiter als die technische Fähigkeit, die richtigen Knöpfe zu drücken, sondern beinhaltet zusätzlich auch Themen wie körperliche sowie seelische Gesundheit und schließt auch soziale Aspekte des digitalen Miteinanders ein. Wie viel Zeit verbringen meine Grundschülerinnen und Grundschüler vor Endgeräten? Sind die konsumierten Inhalte informativ, humorvoll und erbaulich oder irritierend, unangemessen und verstörend? Ist die digitale Kommunikation erfreulich und wertschätzend oder werden Kinder ausgeschlossen und andere Personen in ein schlechtes Licht gestellt?
3) Sensibilisierungs- und Kommunikationsformate wählen
Je nach Stärke der eigenen schulischen Betroffenheit können Sensibilisierungs- und Kommunikationsformate gewählt werden, um dieses schwierige, aber nötige, Thema anzugehen. Worte haben Kraft: Das angemessene Aussprechen von Themen bringt Licht ins Dunkel und bietet Orientierung. Handlungsvereinbarungen und schulische Regeln, die im analogen Bereich seit eh und je eine wertvolle Hilfe sind, können um digitale Themen ergänzt werden, um Handlungssicherheit und Klarheit zu geben.
4) Beratungsoffen sein
Aus der Not heraus haben es sich viele Ansprechpartner zur Aufgabe gemacht, Grundschulen Unterrichtseinheiten, Unterrichtsmaterialien, Fortbildungen und Veranstaltungen anzubieten. Diese können ganz einfach digital gesucht und nach Bedarf eingesetzt werden. Sicherlich wird es in diesem Themenbereich in den nächsten Jahren auch viel weitere Aktivität geben.
5) Vom Schatten zum Licht: Von Cybermobbing zu Cyberrespect
Im Tatsächlichen wie im Metaphorischen gibt es die Licht- und Schattenanalogie: Der Schatten weist ganz grundsätzlich auf ein vorhandenes Licht hin. Das afrikanische Sprichwort »Wende dein Gesicht der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter dich« beschreibt die Idee, dass wir alle Schattenthemen nutzen können, um ganz grundsätzlich über das lichtartige Potenzial eines Themas nachzudenken und dies gemeinsam einzuüben. So wie das Thema Mobbing auf Respekt hinweisen kann, kann das schwere und verunsichernde Thema Cybermobbing auf das gegenteilige Thema Cyberrespect hinweisen.
Folgende Fragen könnten vielleicht eine Hilfe sein, um die eigenen Gedanken in eine positive Richtung zu lenken und gemeinsam auf einem fröhlicheren Weg unterwegs zu sein: Wie könnte ich digitale Medien so nutzen, dass wir uns auf der menschlichen Ebene näher kommen? Wie könnte eine positive digitale Kommunikation konkret aussehen, die nicht Schuld und Scham bewirkt, sondern befreiende und ermutigende Wirkung erzeugt? So ein Paradigmenwechsel könnte viel Kreativität, Neugierde und praxisnahe Ideen entstehen lassen.
Dies ist ein Kommentar von Matthias Stegmaier. Die Meinung des Autors entspricht nicht zwingend der Meinung unserer Redaktion.