Deutschland – digitales Entwicklungsland?
Sommer 2020. Es ist der erste Elternabend nach all den Irritationen des Corona-Lockdowns. Ein langersehntes Wiedersehen mit den Eltern. Und ein Abend mit vielen Fragezeichen und Unsicherheiten, die trotz der medizinischen Masken in den Gesichtern deutlich werden. Als Bildungseinrichtung haben wir entschieden, diese Unsicherheiten zu beantworten, indem wir alle Schülerinnen und Schüler mit iPads ausstatten. Damit sehen wir uns unter anderem auch für mögliche zukünftige außerschulische Szenarien gerüstet. Wie sich an diesem Abend noch herausstellen sollte, hat das Thema Sprengkraft.
Ein Vater, Geschäftsführer eines lokalen Ingenieurbüros, meldet sich als Erster zu Wort: »iPads an der Grundschule? Endlich! Das war auch lange überfällig! Ich habe das Thema schon so oft angesprochen, aber keiner hat je auf mich gehört. Corona hat deutlich gemacht, dass wir in Deutschland digital ein Entwicklungsland sind.« Der Vater macht am Ende seiner Ausführungen eine bedeutungsvolle Pause. Dann holt er zum Rundumschlag aus.
»Das braucht doch kein Mensch!«
»WLAN? W-lahm müsste das eigentlich heißen. Was wir hier an Innovationsfeindlichkeit haben, durch überregulierte und wachstumshemmende Behörden, schrecklich! Da könnte ich Ihnen allen was erzählen. Wir haben doch in Zukunft keine Chance mehr. Europa wird total abgehängt. Die Asiaten und andere Länder machen es uns vor. Und die Bildung? Kinder sind unsere Zukunft, heißt es. So ein Quatsch! Die Politik hat da eindeutig versagt. Überall fehlt es doch an Infrastruktur, die Schulen müssten alle viel mehr modernisiert werden. Auch die übervollen und antiquierten Lehrpläne könnten jetzt endlich mal verschlankt werden. Wer denkt denn heutzutage noch, dass die Kinder Schreibschrift lernen müssen? Zehnfingertippen. Das wäre innovativ. Diese Dinge brauchen die Kinder in Zukunft wirklich. Und diese ewig vollen und schweren Schulranzen! In den Schulranzen der Zukunft gehört: ne Brotdose, was zum Trinken und ein Endgerät. Basta! Nicht mehr diese vielen unnötigen Hefte, Bücher und Papiere. Das braucht doch kein Mensch!«
Die versammelten Eltern lauschen gespannt dem leidenschaftlichen Vortrag des Vaters. Einige nicken zustimmend, manche legen prüfende Blicke auf, andere schütteln ihren Kopf. Der Vater hat die Diskussionsrunde eröffnet und alle, die es anders sehen, werfen ihre Meinung in den Ring.
»Die Kids hängen wie Drogensüchtige an der Nadel!«
Eine Mutter, erfahrene Kinderkrankenschwester, meldet sich mit großer Vehemenz: »Nein, da kann ich Ihnen absolut nicht zustimmen! Soll ich Ihnen sagen, was ich täglich in meiner Praxis erlebe? Kinder, die an Bewegungsmangel leiden, mit Übergewicht zu kämpfen haben. Zum Teil haben sie den Bezug zur analogen und tatsächlichen Realität vollkommen verloren.
Diese sogenannten Sozialen Medien sind doch absichtlich so gemacht, dass die Kids wie Drogensüchtige an der Nadel hängen – ständig auf der Suche, ihr Ego durch Likes und Klicks zu befriedigen. Nicht umsonst verbieten die Chefs dieser ganzen Silicon-Valley-Tech-Firmen ihren eigenen Kindern die Nutzung dieser Plattformen. Die wissen genau, wie groß da die Suchtgefahr ist. Zehnfingertippen-Kurse an der Grundschule? Niemals! Es ist doch durch die Hirnforschung klar bewiesen, wie einseitig Gehirne durch digitalen Konsum aktiviert werden. Und auch die ganzen heftigen psychischen Probleme bei den Jugendlichen, die durch den Druck dieser Instagram-Scheinwelt von scheinbar perfekten Personen bewirkt werden, sind doch längst bekannt.«
Jetzt wendet sich die Mutter mir zu und fordert mich als Klassenlehrer heraus: »Wir haben doch unser Kind bei Ihnen an der Schule angemeldet, weil wir das Montessori-Konzept so gut finden. Jahrgangsmischung. Alt und Jung lernen zusammen. Vom Greifen zum Begreifen. Ganzheitliches Lernen. Mit allen Sinnen. Und jetzt kommen ausgerechnet Sie mit dieser iPad-Idee? Wollen Sie Ihre pädagogischen Wurzeln verraten?«
Die hohe Kunst der Diplomatie
Die Blicke der Eltern, die zuerst den Vater fixierten und dann bei der Mutter waren, bewegen sich nun alle in meine Richtung. Ich bemerke, wie ich rot anlaufe. Was soll ich als Grundschullehrer dazu sagen? Ich übe mich in Diplomatie: »Liebe Eltern, ich kann die Argumente von Ihnen beiden gut nachvollziehen. Auch ich kenne diese Angst, dass wir als Land abgehängt werden, bin traurig über manche Überregulation und Innovationshemmung. Wenn ich erlebe, wie wenig Unterstützung manche Lehrkräfte im Bildungsbereich erleben, wie beharrlich Probleme ignoriert werden und wie betonartig sich nötige Veränderungen hinauszögern, leide ich mit. In Berlin war man tatsächlich stolz, innerhalb von angeblich nur wenigen Monaten allen Lehrkräften in Corona-Zeiten eine eigene Dienst-E-Mail zu ermöglichen. Im Jahr 2020!
Und gleichzeitig erlebe ich als Sportlehrer auch, dass manche Kinder Koordinationsschwierigkeiten haben, einfache motorische Übungen nicht ausführen können, kaum Körperspannung besitzen und somit auch Schwierigkeiten haben, ein leserliches Schriftbild zu entwickeln. Manchmal erlebe ich Kinder, die extrem müde im Unterricht sind, weil sie vorgeben, bis deutlich nach Mitternacht noch gezockt zu haben, während die eigenen Eltern von kontrollierter Mediennutzung sprechen. Auch ich habe die Erfahrung machen müssen, dass Kinder und Jugendliche im digitalen Bereich manchmal Respekt und ein förderliches Miteinander auf schlimmste Weise vermissen lassen.
Was ich mich deshalb vor allem frage: Wie können wir diese ganzen Themen auf gute Art und Weise miteinander verbinden? Wie können wir Bewegung, Miteinander, Lernen, Medien, Altes und Bewährtes sowie Innovatives und Spannendes verbinden?« Ich erzähle von vergangenen positiven Erfahrungen mit digitalen Lernplattformen, neuen Chancen und Zielen, versuche im thematischen Spannungsfeld ein Miteinander im Stil des »Sowohl-als-auch« als eine Chance darzustellen.
Miteinander in Unterschiedlichkeit
Die Stimmung im Raum wird versöhnlicher. Die Eltern gucken wieder entspannter. Sie fühlen sich mit ihren Sorgen, Erfahrungen und Ideen ernst genommen. »Wie genau die Zukunft wird, kann keiner genau sagen. Lassen Sie uns doch diese Reise gemeinsam machen. Sie als Eltern geben uns als Schule Rückmeldungen über das, was uns gelingt, zeigen aber auch auf, woran wir noch wachsen können. Wir können auch bei digitalen Themen ehrlich zueinander sein und die Tücken im Detail gemeinsam lösen«. Und so geht die Reise zusammen weiter. Es ist bisher eine schöne Reise gewesen und ich bin gespannt auf die weiteren Etappen.
Ein Detail sollte ich erwähnen: Den »Vater« und die »Mutter« gibt es so nicht wirklich. Ich habe hier aber echte Meinungen von Eltern an unserer Schule, an Schulen befreundeter Lehrkräfte, von Bekannten sowie von medialen Berichten gebündelt und überspitzt zusammengefasst. In Wirklichkeit war der Showdown am Elternabend nicht ganz so emotional. Was ich jedoch mit dieser Kolumne andeuten möchte: Wir als Grundschule haben gute Erfahrungen damit gemacht, verschiedene Ansichten nebeneinander stehen zu lassen und ein Miteinander in Unterschiedlichkeit auszuprobieren. Lob und konstruktive Kritik hatten und haben ihren Platz. Das hat uns geholfen. Wie erleben Sie diesen Wandel bei Sich?
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Dies ist ein Kommentar von Matthias Stegmaier. Die Meinung des Autors entspricht nicht zwingend der Meinung unserer Redaktion.