Von leeren Worthülsen
Ich bin begeistert! Dieses Angebot aus der Just School-Redaktion klingt so verlockend, dass es mich sofort packt. Motiviert fahre ich noch am selben Abend mit dem Fahrrad nach Hause und überlege fieberhaft, wie ich meine Erlebnisse und Anekdoten mit einem speziellen Thema unter einen Hut bringen kann. Mir fallen viele schöne schulische Situationen ein, die mich mit der Zeit sowohl als Lehrkraft als auch menschlich berührt haben.
Heute erst konnte ich beobachten, wie sich zwei Kinder gegenseitig unterstützt und wunderbar miteinander gelernt und gespielt haben. Wieder merke ich, wie sehr ich meine Arbeit liebe. Dass ich mich jeden Tag auf das Miteinander mit Kindern, Kollegium und Eltern freue. Dass ich sie wie ein begeisterter Fußballfan anfeuere und gespannt bin, ob es gelingt, unsere Aufgaben richtig gut zu bewältigen. Dass ich mich wie ein Kind beim Geschenkeauspacken freue, wenn dies glückt und wir Lehrkräfte menschliche oder fachliche Entwicklung und Wachstum erleben dürfen. Dass wir uns alle als Teil einer Gemeinschaft erleben, die uns guttut. Dass wir lachen und die Zeit miteinander harmonisch verläuft.
Parallel dazu gibt es aber auch zu viele Erlebnisse und Geschichten, die eine Wutrede rechtfertigen. Seit Jahren hängt Deutschland nicht nur in Bezug auf den Anteil des Bruttoinlandsprodukts im Bereich der Investitionen für Kinder international zurück. Es gibt offenbar Bundesländer, die dem verbalen Versprechen »Kinder sind unsere Zukunft!« noch stärker Taten folgen lassen. Wir Niedersachsen dagegen behaupten es zumindest gebetsmühlenartig. Ein Wahlplakat in Nordrhein-Westfalen punktete unlängst viral mit dem Slogan: »Gemeinsam. Kinder. Machen.« Aber entspricht diese Aussage der Realität? »Matthias, Du redest immer so viel von Menschlichkeit. Darum geht es aber nicht. Es geht nur ums Geld. Wer etwas anderes behauptet, hat keine Ahnung davon, wie es wirklich aussieht«, entgegnete mir unlängst ein befreundeter Schulleiter. Liegt er damit richtig? Viele mir bekannte Beispiele deuten darauf hin, dass »Gemeinsam. Kinder. Machen.« lediglich eine weitere leere Marketing-Worthülse ist.
»Die sollen ihre Arbeit machen, statt sich zu beschweren!«
Ich denke an eine Schule in unserer Stadt, deren untragbarer Gebäudezustand auch nach dem energischen Engagement seitens des Kollegiums und der Elternschaft unverändert blieb und der erst nach mehreren Medienberichten endlich eine Verbesserung erfuhr.
Ich denke vor dem Hintergrund übertriebener Bürokratisierung an einen Überlastungshilferuf, der von vielen niedersächsischen Schulleitungen unterzeichnet wurde, vom Kultusministerium aber abgeschmettert wurde. In der Begründung hieß es sinngemäß: »Die sollen lieber ihre Arbeit machen, statt sich zu beschweren.«
Ich denke an eine großangelegte und durchaus detailreiche Arbeitszeiterhebung der Lehrergewerkschaft GEW, die einmal mehr verdeutlichte, dass viele Lehrkräfte am und schon weit über dem Anschlag arbeiten. Wegen angeblicher »formaler Fehler« wurde diese entlarvende Erhebung nicht ausgewertet oder überhaupt ernst genommen. Stattdessen wird vom Kultusministerium eine steuerfinanzierte und kostenintensive Erhebung in Auftrag gegeben. Auf diese Weise kann man eigene Versäumnisse noch ein paar Jahre intransparent aufschieben.
Ich denke an ein Gespräch mit einer talentierten Praktikantin, die sich über einige aus ihrer Sicht wenig sinnvolle Pflichtveranstaltungen an der Universität echauffierte. Meine Generation führte schon vor 20 Jahren ähnliche Diskussionen. Wir wünschten uns damals ein Plus an Veranstaltungen über Diagnostik, praxisnahe Methodik und konkrete Hilfen bei Lernschwächen sowie Unterstützung im Bereich von Kommunikation mit Kindern, Eltern und im Kollegium. Rückblickend denke ich, dass mancher Aspekt meines »Praxisschocks« mit einer praxisnäheren Ausbildung hätte vermieden werden können. Das hätte mir als Lehrer sehr geholfen, die Arbeit mit den Kindern von Anfang an besser durchführen zu können. Und ich berücksichtige hier noch nicht einmal die Tatsache, dass auch heutzutage Lehramtsstudierende einen Abschluss erlangen können, ohne ein einziges Mal mit einem digitalen Endgerät gearbeitet zu haben.
Ich denke an eine befreundete Realschullehrerin, die mir begeistert von ihren Schülerinnen und Schülern berichtet. In der letzten Woche hatten sie gemeinsam die unzumutbar schmutzigen Schultoiletten in ihrer Schule gestrichen und mit Raumduft den dort vorherrschenden Geruch verbessert. Um die damit verbundenen Kosten von 207 Euro tragen zu können, haben sie Waffeln gebacken und verkauft, außerdem auf dem Elternabend Geld gesammelt für das »Toilettenprojekt«. Sie ärgert sich zurecht über manche strukturellen Versäumnisse, staunt gleichzeitig über ihre Klasse: »So viel Engagement aus sich selbst heraus!«
Ich denke an eine ehemalige Kommilitonin, die ebenfalls an einer Realschule arbeitet. Schon damals genoss sie bei uns einen gewissen Heldenstatus – allein deswegen, weil sie auf einem Musikfestival beim Stagediven die Gitarre von Foo Fighters-Frontmann Dave Grohl halten durfte und es damit bis ins Musikfernsehen geschafft hat. Heute versucht sie ihren Schülerinnen und Schülern an der »Resteschule« (Zitat von Mitschülern eines Gymnasiums) zu vermitteln, dass sie wertvolle Mitglieder der Gemeinschaft sein können, an ihre Fähigkeiten glauben und ihren eigenen Lebensweg aktiv gestalten dürfen. Über die mangelnde Bildungsgerechtigkeit in Deutschland und die Schwierigkeit, aus dem eigenen Milieu aufzusteigen ist ja schon viel geschrieben worden. Konkrete Beispiele wie diese gehen mir immer wieder unter die Haut.
Nicht zuletzt denke ich an zahlreiche Medienberichte über akuten Lehrkräftemangel, Schulen mit massiven Unterrichtsausfällen, Beratungsnetzwerke, die Lehrkräften helfen wollen, sich selbst nicht zu verlieren. Oder die Burnout-Erfahrungen ehemaliger Kolleginnen und Kollegen, die ich noch als leidenschaftliche Pädagog(inn)en kennengelernt habe und die im Laufe ihres Berufslebens von den schwierigen Begleitumständen unseres Bildungssystems jede Leidenschaft abgewöhnt bekamen.
Willkommen in der Bildungsrepublik Deutschland
Mit all diesen Beispielen im Hinterkopf frage ich mich, was eigentlich passieren würde, wenn ich als Lehrkraft und Pädagoge genauso mit den Sorgen und Problemen meiner Schülerinnen und Schüler umgehen würde, wie es einige politische Entscheider(innen) mit den Sorgen und Problemen der Lehrkräfte tun?
»Herr Stegmaier, der Mitschüler ärgert mich, er klaut mein Radiergummi und haut mich!« »Sei ruhig jetzt und mach deine Arbeit!« Am nächsten Tag hätte ich mit Sicherheit und völlig zurecht emotionalisierte Eltern vor mir, die mich zur Rede stellen und sich für eine gute Lernatmosphäre ihres Kindes einsetzen würden. Ich müsste meine versalzene Suppe selbst auslöffeln und würde durch das Feedback angeregt, zukünftig meine Haltung zu überdenken. Aber was ist, wenn Führungspersonen gar keine Berührungspunkte haben wollen und auch Feedback der Bevölkerung über den eigenen dilettantischen Umgang mit dem Salz nicht ernst nehmen wollen?
Gleichzeitig gibt es immer wieder positive Signale aus der Politik. Die digitale Lernplattform eines regionalen Bildungshauses wird allen Grundschulen in Niedersachsen für drei Jahre kostenlos zur Verfügung gestellt. So können die Fähigkeiten in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch systematisch überprüft sowie die Schülerinnen und Schüler durch individuell zuweisbare Aufgaben gefördert und gefordert werden. Es gibt Anfragen aus anderen Bundesländern: »Gilt dieses tolle Angebot auch für Sachsen-Anhalt?« Ich rate, einfach mal beim Kultusministerium nachzufragen und dieses Angebot zu empfehlen.
Ein Mitarbeiter des Bildungshauses nahm mich kürzlich zur Seite: »Matthias, wir sind hier in der Bildungsrepublik Deutschland. Wenn hier jemand Erfolg hat, dann wird nicht daraus gelernt, sondern dann heißt es: Wir grenzen uns von diesem Modell ab!« Mit sarkastischem Unterton erzählt er mir noch, welche Bundesländer seiner Erfahrung nach in dieser Disziplin um die Deutsche Meisterschaft kämpfen.
Wo also will ich hier gedanklich hin? Schon ein kleiner Buchstabe kann einer Wutrede eine ganz andere Bedeutung verleihen. Trotz oder gerade wegen all der aufgezählten Negativbeispiele glaube ich weiterhin fest daran, dass es sich absolut lohnt, optimistisch und mutig in die Zukunft zu blicken. Und eine Mutrede zu halten. Doch was können hier die Lösungen sein? Ich habe erfahrene Kolleginnen und Kollegen stets bewundert, die folgende Ziele beherzigen:
1) Gemeinschaft und Kommunikation
Nah dran sein an den aktuellen Themen. Die Rückmeldungen aus der Praxis ernst nehmen. Bei der Suche und dem Etablieren von Lösungen behilflich sein.
2) Zeit
Wer überfordert ist, wird selten mit Reflexion, Gelassenheit und Souveränität agieren können. Die Qualität der eigenen Entscheidungen nimmt ab. Man arbeitet hinterher und hat zu viele Themen in der Pipeline. Für die mentale Bewältigung des eigenen Geschehens ist nicht genug Zeit und Raum, sodass immer mehr Irritationen entstehen. »Gut Ding will Weile haben. Menschlichkeit entsteht immer zwischen Menschen, die sich aufeinander einlassen, das braucht Zeit« schreibt mir ein befreundeter Schulleiter.
3) Humor und Genuss
»Wer nicht genießt, wird ungenießbar!« Sich bewusst Zeit zu nehmen, das Tempo rausnehmen, mit Humor und Dankbarkeit über erlebte Erfahrungen reflektieren gibt Kraft und Perspektive.
4) Vernetzung
Den Schulterschluss wagen und Gleichgesinnte suchen. »Ein ganzes Dorf erzieht ein Kind«. Wie wertvoll, wenn der schulische Auftrag auch gesellschaftlich unterstützt wird. Wenn Schule nicht nur von oben herab als Dienstleister gesehen wird für das Entwickeln einer Kultur von Lernen und Respekt, sondern im Miteinander gemeinsam entstehen kann.
5) Eine gemeinsame Vision entwickeln
»Eine Vision ist ein attraktives Bild der Zukunft, das Leidenschaft und Hingabe bei mir freisetzt.«
Die junge Frau, die mir diesen Satz vor über 20 Jahren gesagt hatte, ist nun seit vielen Jahren an meiner Seite und die Mutter unserer gemeinsamen Kinder.
Es steht viel auf dem Spiel. Unsere Zukunft. Unser Erbe, welches wir an unsere Kinder weitergeben werden. Ein Staatssekretär sagte neulich: »Beim Erbrecht kann man das Erbe der Eltern auch ablehnen. Das Erbe, was wir als Menschheitsfamilie kollektiv für unsere Kinder hinterlassen, sollte so sein, dass unsere Kinder es nicht ablehnen wollen. Weil sie es ja auch faktisch nicht ablehnen können.« Wie schön und wie wichtig wäre es, wenn wir uns um dieses Erbe gemeinsam engagieren würden.
Dies ist ein Kommentar von Matthias Stegmaier. Die Meinung des Autors entspricht nicht zwingend der Meinung unserer Redaktion.