Inklusion und Digitalisierung zusammen denken
Was heißt das eigentlich, größtmögliche Bildungsteilhabe? „Jedenfalls nicht ausschließlich, dass alle gemeinsam in eine Schule gehen“, entgegnet Gerhard Zupp. Der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Sprachheilpädagogik ist einer der zahlreichen Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des im Frühjahr verfassten Positionspapiers „Pakt für Inklusion 2021“, das größtmögliche Bildungsteilhabe als Menschenrecht einfordert. „Größtmögliche Bildungsteilhabe bedeutet in erster Linie, dass der Mensch – jeder Mensch – respektiert wird, im Mittelpunkt steht, sozial integriert ist und die Möglichkeit erhält, sich auszuleben und sein Leben sinnvoll zu gestalten“, präzisiert Zupp die Begrifflichkeiten.
Auf den Punkt gebracht sei dies der wichtige Grundgedanke der Inklusion. „Die Digitalisierung ist also auch gleichberechtigt umzusetzen, für alle Menschen mit Beeinträchtigung, wie für alle Menschen ohne Beeinträchtigung oder alle Menschen aus anderen Kulturkreisen oder mit Migrationshintergrund“, zählt er auf und verdeutlicht:, dass es hierbei keine Unterschiede geben dürfe. So ist es kaum verwunderlich, dass der Pakt für Inklusion 2021 auf den ersten Blick bei Themen wie Schulausstattung, Breitbandausbau oder Lehrerfortbildung in seinen Forderungen fast deckungsgleich auf die Bedürfnisse der allgemeinen Schuldigitalisierung abgebildet werden kann. Während letztere in Corona-Zeiten jedoch eine verhältnismäßig starke Entwicklung genommen hat, gelte es laut Gerhard Zupp, die Themen Inklusive Bildung und Digitalisierung als große gesamtgesellschaftliche Aufgaben nicht aus den Augen zu verlieren.
Dies sei der eigentliche Hintergrund beim Pakt für Inklusion 2021 als Gemeinschaftsprojekt, so Spracheilpädagoge Zupp. Das Memorandum habe bei der Entstehung zwar nicht erst eine Pandemie benötigt., denn: „Das Thema ist uns schon länger bekannt und wurde jetzt verstetigt“, unterstreicht Gerhard Zupp. Die Pandemie habe aber noch einmal deutlich unterstrichen, dass gerade dort, wo Menschen mit Beeinträchtigung im schulischen Bereich unterwegs seien, „digitale Möglichkeiten noch viel weniger in der notwendigen Spezifität vorhanden waren, als das in vielen Regelschulen der Fall war. Eine klare Benachteiligung also.“ Man habe überdies festgestellt, dass Förderschülerinnen und Förderschüler in Regelschulen häufig schwieriger einen Zugang zu spezifisch vorbereiteten und eingerichteten Endgeräten erhalten erhielten, weil die entsprechende Software, die auch für Menschen mit Beeinträchtigung eminent notwendig ist, um überhaupt digital lernen zu können, nicht vorhanden ist sei. Auch habe die Pandemie schonungslos offengelegt, dass Lehrkräfte oft nicht dafür ausgebildet sind, digitales Lernen umzusetzen. „Schon gar nicht, wenn die Besonderheiten des Lernens eine besondere Didaktik und Pädagogik erfordern“, hebt Gerhard Zupp hervor. Auch der Fachkräftemangel sei ein Thema. Zupp stellt fest, dass gerade in Zeiten einer Pandemie Inklusion und barrierefreie Digitalisierung hintenangestellt und zu wenig mitgedacht würden, was der Pakt für Inklusion 2021 deutlich beklage.
"Eintreten für inklusive Bildung nicht vernachlässigen!”
Exemplarisch für das „systematische Ausblenden“ dieser Themenbereiche sei der Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) vom 15. Oktober 2020 “Politische Vorhaben zur Ländervereinbarung über die gemeinsame Grundstruktur des Schulwesens und die gesamtstaatliche Verantwortung der Länder in zentralen bildungspolitischen Fragen”. In dem Beschluss fänden sich weder konkrete Aussagen zur inklusiven Bildung (Artikel 12 der Ländervereinbarung) noch ein Wort zur Barrierefreiheit, kritisiert Gerhard Zupp.
Immerhin zeigte sich die KMK vor dem Hintergrund des Memorandums gesprächsbereit. Die Zeit wird zeigen, welche Fortschritte daraus resultieren. Alle Schulträger mit dem Positionspapier zu erreichen, gestaltet sich da schon weitaus schwieriger, was vor allem dem Charakter des deutschen Föderalismus geschuldet ist. Bei mehr als 5.500 Schulträgern in ganz Deutschland liegt auch im Herbst 2021 noch viel Aufklärungsarbeit vor dem Bündnis hinter dem Pakt für Inklusion. Dessen Mitglieder appellieren an alle, die in Bund, Ländern und Kommunen Entscheidungen treffen, die personellen, sächlichen, organisatorischen sowie barrierefreien Voraussetzungen für gute inklusive Bildung und Digitalisierung bedingungslos zu gewährleisten.
„Hierfür müssten auf allen Ebenen entsprechende finanzielle und inhaltliche Anstrengungen unternommen werden. Bei allen Bemühungen um Fortschritte in der Digitalisierung darf das grundsätzliche Eintreten für inklusive Bildung nicht vernachlässigt werden“, so Zupp abschließend.