Laura Pooth, wie wird man überhaupt Landesvorsitzende bei der GEW? Dieser Weg war für mich ein wenig vorgezeichnet. Mein Vater engagiert sich seit vielen Jahren in der IG Metall und Lehrerin zu sein ist mein absoluter Traumberuf. Der macht mir ganz viel Spaß. Ich habe aber auch erkannt, dass die Bedingungen beim System Schule nicht stimmen. In der GEW habe ich ganz schnell Mitstreiter(innen) gefunden, die für bessere Arbeitsbedingungen, aber auch für Chancengleichheit kämpfen. So habe ich den Sinn erkannt, mich zu engagieren – zunächst auf Ortsebene, dann auf Kreisebene und jetzt auch auf Landesebene.
Welches sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen, vor denen unsere Lehrkräfte derzeit stehen? Im Kern würde ich sagen, dass die Belastung für die Lehrkräfte so hoch ist, dass ich als Lehrerin meinen Schülerinnen und Schülern nicht so gerecht werden kann, wie ich es gerne würde. Wir haben mehrere Arbeitszeitstudien in Zusammenarbeit mit der Uni Göttingen in Auftrag gegeben. Herausgekommen ist dabei, dass etwa 96 Prozent der befragten Lehrerinnen und Lehrer angegeben haben, ihren Beruf zu lieben, die Bedingungen ihn aber unausführbar machen. Das ist was uns unter Corona antreibt. Die Belastung hat noch einmal massiv zugenommen. Zuletzt ist sie explodiert, weil ich als Lehrerin nicht nur eine Gruppe im Präsenzunterricht hatte, sondern die halbe Klasse in der Schule war, während die andere Hälfte zuhause saß. Die Aushebelung der Präsenzpflicht brachte das Fass zum Überlaufen. Auf einmal war da noch eine dritte Gruppe, die gar nicht in die Schule gekommen ist. Herr Tonne sprach immer von drei Szenarien A, B oder C. Die Lehrerinnen und Lehrer mussten sich aber auf drei Szenarien gleichzeitig einstellen.
Hat die Politik die Lehrerinnen und Lehrer vor allem während der Pandemie im Stich gelassen? Ihre Frage trifft es vielleicht nicht ganz, aber die hohe Belastung, der fehlende politische Wille, vernünftig zu investieren – das passierte auf dem Rücken der Beschäftigten und geht auch zu Lasten guter Bildung unserer Kinder und Jugendlichen.
Am Anfang der Pandemie klappte nicht alles auf Anhieb und ich hatte das Gefühl, dass die Lehrkräfte in der Öffentlichkeit als Sündenböcke dargestellt wurden. Das fand ich absolut den falschen Weg! Gerade, weil meine Kolleginnen und Kollegen derart engagiert waren, das alles auf die Reihe zu bekommen: Von ich fahre zum Wohnort der Schülerinnen und Schülern und liefere ihnen die Aufgaben an die Haustür bis hin zur Umstellung auf digital von dem einen auf den anderen Tag. Der Anspruch unserer Lehrkräfte war immer hoch!
Die neue GEW-Chefin Maike Finnern hat der Bildungspolitik während der Pandemie die Schulnote 5 ausgesprochen. Gehen Sie in dieser Einschätzung mit? Meine Kollegin spricht hier gegenüber der Bundesebene. Ich würde mich gerne auf die Landesebene fokussieren. Da hatte ich schon immer den Eindruck, dass Kultusminister Grant Tonne zuhört. Es gab regelmäßig Runden mit den Verbänden. Was mich aber massiv stört sind die Aussagen von Finanzminister Reinhold Hilbers, der immer nur vom Sparen spricht. Eine Kerbe, in die auch die Chefin des Landesrechnungshofes Sandra von Klaeden schlägt, wenn sie sagt, wir müssten auch die Lehrkräfte in den Fokus nehmen. Die Grundschulen wissen teilweise gar nicht, ob sie die Unterrichtsversorgung überhaupt gewährleisten können oder den Unterricht im kommenden Jahr so aufrecht halten können. Und dann kommen Frau von Klaeden und Herr Hilbers mit Einsparvorschlägen. In Zeiten massiven Personalmangels ist das skandalös!
Bildung ist Ländersache, doch der Bund würde auch gerne mehr Einfluss auf diesen Bereich ausüben. Finden Sie das den richtigen Weg? Was uns umtreibt ist dieses Schwarzer Peter-Spiel. Es ist offensichtlich, dass es in der Bildung an allen Ecken und Enden mangelt. Wenn man es anspricht, schiebt es die Kommune auf das Land, das Land auf den Bund und umgekehrt. Das ist aus meiner Sicht der falsche Weg. Alle Akteure gehören an einen Tisch, um die Frage zu diskutieren: „Wie können wir in einem so reichen Land wie Deutschland erreichen, dass alle Kinder und Jugendlichen eine gute Bildung erhalten?“.
Unser IServ-Gründer Jörg Ludwig fordert unter anderem eigenverantwortliche Schulbudgets, weil die Schulen seiner Meinung nach selbst am besten wissen, was sie benötigen. Wie lautet Ihr Standpunkt dazu? Das entspricht in etwa auch unseren Forderungen. Das Budget der Schulen muss deutlich erhöht werden, damit sie das anschaffen können was sie vor Ort brauchen. Das können sie selbst am besten beurteilen. Wir erleben aber, dass sie dabei einem sehr hohen bürokratischen Aufwand unterliegen. So etwas ist für meine Kolleginnen und Kollegen sehr ärgerlich. In der Pandemie haben wir alles selber angeschafft – angefangen von Seife, sind in die Baumärkte gefahren und Drogerien gelaufen und haben notwendige Dinge wie Spuckschutzwände selber gebaut.
Erst im Dezember 2020 hat dann das Ministerium Gelder dafür bereitgestellt. Die muss man aber ziemlich kompliziert beantragen. Ob diesen Anträgen dann stattgegeben wird steht auf einem anderen Blatt Papier und berücksichtigt wird hierbei nur, was ab dem 17. November 2020 angeschafft wurde. Auch das hat für totales Unverständnis gesorgt.
Wie könnte man dieses Problem lösen? Der bürokratische Aufwand muss deutlich reduziert werden. Die Schulen brauchen Geld das sie unkonventionell zur Verfügung haben, damit sie das kaufen können was sie brauchen. Das betrifft sächliche Ausstattung wie die Seife, Handtücher und alles was darüber hinaus geht. Was das Personal angeht, ist es schon sinnvoll, wenn man eine gewisse Steuerung hat, weil wir natürlich sehen wie schwierig es im Vergleich zu städtischen Regionen ist, ländliche Gegenden mit Personal auszustatten. Da ist schon gut, wenn man das ein stückweit steuert.
Haben Sie denn Hoffnung, dass die genannten Kernthemen wie eigenverantwortliche Schulbudgets, die Ausstattung der Schulen oder auch die Breitbandanbindung in absehbarer Zeit gelöst werden können? Ich habe schon den Eindruck, dass es etwas bringt, wenn wir als GEW ‚den Finger in die Wunde halten‘ und ich habe auch den Eindruck, dass diese Krise Chancen bietet. Auffällig ist aber schon, dass Mitte 2020 nur 8 Prozent der Schulen an das Glasfasernetz angeschlossen waren und Schülerinnen und Schüler immer noch aus Videokonferenzen rausfliegen, weil das Internet einfach nicht stabil läuft. Diese Probleme gab es schon vor der Pandemie und da habe ich wenig Weiterentwicklung gesehen. Wir haben aber einen Digitalisierungsminister der das in die Hand nehmen müsste.
Birgt die Digitalisierung aus Ihrer Sicht auch Probleme für unsere Lehrkräfte? Das muss man aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Alles was die Administration betrifft, was lästige Aufgaben für die Beschäftigten an Schulen betrifft – das alles auf digitale Füße zu stellen ist absolut richtig. Gefahren sehe ich beim Thema ‚Wie lernen Schülerinnen und Schüler?‘.
Das müssen Sie mir bitte erläutern. In den letzten Jahren gab es einige Schockmomente. Erst wurde beim ‚Sputnik-Schock‘ festgestellt, dass der Anteil der Abiturient(innen) zu gering ist. Es folgte die PISA-Studie, unser Abiturient(innen)-Anteil war immer noch zu gering. Egal welche Untersuchungen man hier betrachtet, die Chance auf Bildung hängt vom Kontostand der Eltern ab. Das ist aktuell auch wieder der Fall. Es wird nie danach gefragt, was wir machen müssen, um die Schwächeren zu fördern. Selbst nach der PISA-Studie wurde versucht, Zahlen zu generieren, um die Schulen vergleichbar zu machen. Das ärgert mich ein Stück weit und diese Gefahr sehe ich jetzt auch wieder gegeben. Wir haben Probleme, obwohl wir ein Bildungsland sind. Die Schere geht immer weiter auseinander. Ständig wird vom Sparen gesprochen und sozusagen als Vision ausgegeben, dass alle Kinder ein Tablet besitzen, über das sie lernen können und damit alle Probleme gelöst sind. Das ist eine komplette Fehleinschätzung. Deshalb ist mir so wichtig, die Stimme zu sein, die sagt: ‚Lernen basiert auf dem Austausch untereinander.‘ Und zum Lernen braucht es Lehrkräfte aus Fleisch und Blut.
Auch gibt es praktisch keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, welche die Vorteile der Nutzung von digitalen Endgeräten beim digitalen Lernen bestätigen. Deshalb fordern wir als GEW, dass es auch zum Einsatz digitaler Medien an Schulen viel mehr Untersuchungen geben muss. Wie gestalte ich das als Lehrkraft eigentlich effektiv? Was bringt es den Kindern? Die Gefahr ist, dass sie so oder so im privaten Bereich permanent vor dem Bildschirm sitzen. Wie kann ich die Endgeräte sinnvoll einsetzen, ohne dass die Schülerinnen und Schüler wenig Lernzuwachs haben?
Hinkt Deutschland im internationalen Vergleich bei der Digitalisierung hinterher? Derartige Aussagen halte ich für Quatsch. Wir müssen uns fragen: Was ist modernes Lernen? Was bedeutet ‚modern‘? Und was brauchen wir für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Zukunft? Wenn alle sich wiederholenden Tätigkeiten wegfallen, weil diese von Rechnern übernommen werden, brauchen wir zukünftig Arbeiternehmer(innen) die all das können was der Rechner nicht kann.
Und das wäre? Empathie, Teamfähigkeit, Kreativität – das sind doch die Eigenschaften, die wir den Kindern und Jugendlichen beibringen müssen. Das schaffe ich eben nicht über tippen und wischen am Tablet, sondern in einer sozialen Gemeinschaft. Dass ich das Digitale zur Unterstützung nutze will ich gar nicht ausschließen, das ist mir wichtig. Ich erlebe auch eine ganz hohe Bereitschaft meiner Kolleginnen und Kollegen, sich der Sache anzunehmen.
Natürlich gibt es da Unterschiede. Einige haben eine hohe Affinität zur Digitalisierung und andere eben nicht. Was aber auffällt ist, dass die vom Ministerium in den vergangenen Sommerferien angebotenen Fortbildungen überbucht waren ohne Ende. Und das während der Ferien! Das sagt mir, der Run auf die Fortbildungen ist enorm und es zeigt auch die Bereitschaft der Lehrkräfte. Ich finde, da ist noch ein riesen Nachholbedarf, was Fortbildungen und Unterstützung angeht.
Diesen Punkt würde ich gerne aufgreifen. Wo die Bereitschaft der Lehrkräfte spürbar ist, werden sie auch dabei behindert? Es wird immer vorausgesetzt, dass die Lehrkräfte das jetzt machen und wenn es nicht klappt sind sie selber schuld. Kaum ein Unternehmen würde seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dazu zwingen, ihre privaten Endgeräte zu nutzen. Dass Lehrerinnen und Lehrer das tun wird als normal angesehen. Noch vor Weihnachten 2020 sollten Endgeräte für Lehrkräfte da sein. Wir warten immer noch.
Auch habe ich persönlich an anderer Stelle den Vergleich. Wenn ich in der GEW-Geschäftsstelle bin und dort irgendetwas nicht funktioniert rufe ich unseren IT-Menschen an und der kommt und unterstützt mich. Als Lehrerin habe ich diese Möglichkeit nicht. Weder an der Schule gibt es jemanden, der mich dabei unterstützt noch zuhause im Home Office bin. Da ist auch noch massiver Nachholbedarf und da fehlt dann auch immer das Geld.
Wie vor wenigen Tagen bekannt wurde, ziehen Sie im Herbst weiter in Richtung DGB. Was hat Sie dazu bewogen? Ich bin von ganzem Herzen Gewerkschafterin. Nach zehn Jahren voller Leidenschaft an der Landesspitze der GEW treibt mich vor allem der Missstand ganz besonders um, dass die Chance auf Bildung immer noch vom Kontostand der Eltern abhängt. Und das lässt sich nicht in der Schule allein beheben. Dazu gehören die Bedingungen, in denen ein Kind aufwächst: Wenn das Geld für die Klassenfahrt oder gar für eine warme Mahlzeit nicht reicht, nicht ins Kino, Schwimmbad oder in den Sportverein zu können, wenn die Familiensituation geprägt ist von der Angst, überhaupt einen Job zu bekommen, der zum Leben reicht, oder den Fristvertrag zu behalten, dann finde ich das schwer erträglich. Ich sehe es als meine Berufung, im DGB gemeinsam mit vielen anderen die starke Stimme dafür zu sein, dass alle Menschen die gleiche Chance auf eine Zukunft voller Zuversicht bekommen.