Herr Försterling, wo ist aus Ihrer Sicht der Stand der Schuldigitalisierung in Deutschland und im Besonderen in Niedersachsen einzuordnen? Ich glaube, wir hängen im internationalen Vergleich immer noch hinterher. Wenn man beispielsweise betrachtet, wie Schülerinnen und Schüler in Neuseeland digital lernen können. Dann sind wir nicht nur geografisch meilenweit entfernt, sondern auch beim Niveau des digitalen Lernens. Da ist eine ähnlich große Distanz. Innerhalb Deutschlands sind wir Niedersachsen bei der Schuldigitalisierung nicht ganz schlecht, aber wir sind auch nicht besonders gut. Das zeichnet aber auch seit langem diese Landesregierung von CDU und SPD aus, dass man mit Mittelmaß zufrieden ist. Von daher sage ich mal sind wir deutscher Durchschnitt.
Was sind die großen Probleme die angepackt werden müssen, damit wir uns überhaupt Richtung Neuseeland bewegen können? Zunächst einmal muss klar sein: Wir müssen unsere Schülerinnen und Schüler ins Netz bringen. Das ist eine Erkenntnis aus der Pandemie und da haben sich deutliche Defizite aufgezeigt. Zum einen fehlt es an der Versorgung mit entsprechenden leistungsfähigen Netzanschlüssen. Zum anderen stellt sich gerade bei den einkommensschwachen Haushalten die Frage nach digitalen Endgeräten und den dazugehörigen Netztarifen. Mit einer Aldi-Talk-Card komme ich nicht weit, wenn drei Kinder parallel im Distanzlernen sind. Wir müssen erst einmal sicherstellen, dass wir überall im Land auch eine entsprechende Bandbreite haben und entsprechend müssen wir auch den Zugang schaffen. Das ist mittlerweile die Grundvoraussetzung für gleiche Bildungschancen. Dieser infrastrukturelle Teil reicht natürlich auch ein Stück weit in die Ausstattung der Schulen hinein. Kann ich parallel die Hälfte der Klasse zuhause unterrichten und andere Hälfte in Präsenz? Diese Frage beantworten die wenigsten Schulen mit ja und es bedeutet doppelte Arbeit für die Lehrkräfte. Sie geben sozusagen Aufgaben ins Distanzlernen und dann Aufgaben für den Präsenzunterricht, weil wir nicht in der Lage sind, hybriden Unterricht wirklich zu gewährleisten. Im Landtag schaffen wir es inzwischen hybride Ausschusssitzungen zu machen, aber wir schaffen es immer noch nicht hybriden Unterricht zu machen.
Wie sollte hybrider Unterricht denn idealerweise aussehen? Was muss dafür gewährleistet sein und wie soll das vor allem nach der Pandemie aussehen, sofern der Bedarf dann noch vorhanden ist? Ich glaube, den Bedarf wird es immer wieder geben. Es wird immer wieder Schülerinnen und Schüler geben, die krank zu Hause sind, die den Unterricht aber vielleicht trotzdem verfolgen können. Es darf nach 16 Monaten Pandemie auf keinen Fall mehr passieren, dass die Schülerinnen und Schüler wieder an die Schulen zurückkehren und die Schulen wieder den Präsenzunterricht anbieten, der sich in den letzten 150 Jahren bewährt hat. Da darf es kein ‚Weiter so wie bisher‘ geben! Wir müssen jetzt die richtigen Rückschlüsse ziehen und dazu gehört dann beispielsweise auch hybrider Unterricht.
Dazu gehört auch, dass wir endlich flächendeckend Lehrinhalte digitalisieren müssen. Es kann ja nicht sein, dass jede Lehrkraft im Land das Rad neu erfindet. Beim Mathematik-Thema Binomische Formeln genügen ein zwei, gut gemachte digitale Module von Lehrkräften in Niedersachsen, die allen Schülerinnen und Schülern zur Verfügung gestellt werden können. Hier liegt eine Chance, die man bisher vertan hat und man könnte gleich drei Dinge auf einmal erledigen.
Erstens hätten die Lehrkräfte Module, auf die sie guten Gewissens zurückgreifen können, weil sie von Kolleginnen und Kollegen stammen. Zweitens können die Schülerinnen und Schüler individuell lernen, weil sie auch außerhalb der Schule auf diese Module zugreifen können. Es kann durchaus sein, dass man zu seinem Mathelehrer nicht das gute Verhältnis hat oder einfach die Chemie nicht stimmt und der einen vieles erklären kann, man es aber einfach nicht versteht. Da kann ein anderer Ansatz schon der Durchbruch sein. Drittens können wir die Eltern zukünftig ganz anders einbinden. Eltern bekommen dann nicht nur die Chance, digital mit ihren Kindern etwas zu machen, sondern auch das Angebot ihr Wissen selbst aufzufrischen und so gezielt mit den Kindern eine Matheaufgabe lösen zu können.
Von Lehrkräften entwickelte, zertifizierte Module sollten demnach künftig Teil der digitalen Plattformen an Schulen sein? Genau! Als Ziel nehme ich mir die Kerncurricula vor, die ja ohnehin in den Unterricht übersetzt werden müssen, nur dass ich sie hier nicht in Präsenz übersetze, sondern flächendeckend in digitale Unterrichtseinheiten. Dann kann ich mir ganz gezielt und individuell das Modul raussuchen, was ich brauche. Das Ganze sollte natürlich auch online verfügbar sein über die Plattform, mit der die Schule arbeitet und wo ich über meinen Schülerzugang, Lehrerzugang oder perspektivisch auch den Elternzugang verfüge. Letzteres wäre auch spannend, damit sich die Eltern einfacher einen Überblick über die Lehrinhalte ihrer Kinder machen können, anstatt sich auf der Seite des Kultusministeriums durch die ganzen Curricula klicken und aufwendig nachlesen zu müssen, was für Kernkompetenzen ihren Kindern im Einzelnen vermittelt werden sollen.
Inwiefern müssten dann die Lehrpläne umgestaltet werden? Die Vorgaben gibt es in den Kerncurricula und da geht es erstmal um die Digitalisierung dieser Vorgaben sowie deren Umsetzung. Der ganze Bereich des Umgangs mit digitalen Medien muss dann auch zwingend in die Lehrpläne mit rein. Wir brauchen auch eine Verankerung der Medienbildung in den Schulen. Da kann man natürlich beispielsweise ganz simpel beim Fach Deutsch über die Implementierung von Textverarbeitung reden. In Mathematik kann ich schon darüber reden, dass die Schülerinnen und Schüler mit Grafikprogrammen arbeiten.
Dabei wird aber tatsächlich entscheidend sein, nicht nur eine rein konsumtive Nutzung der digitalen Medien zu fördern. Das haben die Kinder schon in früheren Jahren gelernt. Wenn die Eltern essen gehen oder die Kinder ruhig sein sollen wird ihnen ein iPad mit Kopfhörern in die Hand gedrückt. Das ist reines Konsumieren von digitalen Angeboten und passiv. Schule muss dafür da sein, dieses Thema auch ein Stück weit aktiver zu gestalten, damit die Kinder und die Schüler(innen) auch direkt lernen, was aktive Medien sind, mit denen sie etwas machen können, außer sich nur passiv bespaßen zu lassen.
Corona hat auch unsere Lehrkräfte und ihre Art zu unterrichten verändert. Ein Zurück wird es nicht geben. Welche Eigenschaften zeichnen den idealen Lehrer oder die ideale Lehrerin nach der Pandemie aus? Natürlich finden wir sinnvoll, wenn alle angehenden jungen Lehrkräfte von der Pieke auf mit den digitalen Möglichkeiten umgehen können. Das muss aber noch mehr in der Ausbildung selbst stattfinden. Die weitaus wichtigere Frage richtet sich aber an die über 80.000 Lehrkräfte, die schon im System sind und dabei einen ganz unterschiedlichen Stand bei der Digitalisierung haben.
Vorstellbar wäre hier tatsächlich nach estländischem Vorbild Digitalpädagogen an den Schulen einzuführen. Das wären Personen, die auf der einen Seite pädagogisch ausgebildet sind, auf der anderen Seite aber auch in den Bereichen Informatik, oder Systemadministration ausgebildet sind. Die können genau die Schnittstelle zwischen der Welt der Pädagogen und der digitalen Welt bilden, die oftmals zueinander gebracht werden müssen und die uns oftmals noch fehlt. Der ein oder andere kennt das vielleicht noch von früher aus seiner eigenen Schulzeit. Der klassische Schulassistent, der dafür zuständig war, dass diese Matrizen-Maschinen reibungslos funktionierten oder, dass die Kartenräume geordnet waren. Diese Unterstützung braucht man auch für die digitale Welt sowie im Bereich der digitalen Medienschulung.
Dieser Ansatz funktioniert in Estland? Nachdem, was ich gehört habe, funktioniert das ganz gut, weil es da einen Ansprechpartner für die Lehrkräfte gibt und man auch ganz anders ins Gespräch kommt und direkt darüber sprechen kann, wie digitale Medien sinnvoll für den Unterricht genutzt werden können. Das ist ein Thema das in Deutschland bisher viel zu wenig betrachtet wird. Dazu gibt es ganz unterschiedliche Haltungen. Die einen sagen: ‚Diesen digitalen Kram brauche ich nicht. Mein Unterricht ist gut so wie er ist.‘ Die anderen glauben per se an guten Unterricht, nur weil sie ein Youtube-Video nutzen. Beides ist ja nicht der Fall. Pädagogisch muss ich immer die richtigen Mittel wählen. Da reicht es nicht Videos zu zeigen. Da muss ich den Schülerinnen und Schülern interaktiv die Möglichkeit bieten sie einzubinden. Ich glaube, das ist die eigentliche hohe Kunst dabei. Da müssen wir auch im Bereich der Bildungsforschung ansetzen und überlegen, was eigentlich guter digitaler Unterricht ist. Nur etwas mit digitalen Medien zu machen ist per se noch kein guter Unterricht.
Wie können wir den aktuellen Schwung und das Tempo in der Schuldigitalisierung beibehalten und dafür Sorge tragen, dass wir nach überstandener Pandemie nicht wieder in alte Muster verfallen? Entscheidend wird tatsächlich sein, dass die Mittel aus dem DigitalPakt verstetigt werden. Bisher ist der DigitalPakt begrenzt und alle Welt – insbesondere die Schulträger – fragt sich, was eigentlich danach passiert? Dann haben wir zwar die Schulen aufgerüstet, digitale Endgeräte für einkommensschwache Schülerinnen und Schüler und für die Lehrkräfte gekauft, die Schulen und die Klassenzimmer ausgerüstet – aber dann? Wir wissen ja schon heute, dass die Geräte irgendwann ausgetauscht werden müssen. Auch die Administratoren müssen dauerhaft da sein. Die können nicht mit dem Auslaufen des DigitalPakts gekündigt werden.
Das alles sind Dinge, die unserer Ansicht nach eines der beiden großen Investitionshemmnisse bei der Digitalisierung sind. Man muss heute seine Verständigung zwischen Bund und Ländern herbeiführen, die den Digitalpakt nicht nur verlängert, sondern ihn auf Dauer ausgestalten müssen. Es wird alle paar Jahre neue Geräte brauchen. Keine Firma arbeitet heute noch mit den ersten Rechnern aus den 1990er Jahren.
Inwiefern ist es bei diesem Denkansatz notwendig, dass die Schulen ihr Budget in Eigenverantwortung verwalten und selber entscheiden können? Wir wären insgesamt bei der Umsetzung des Digitalpakts und dem Mittelabfluss schon deutlich weiter, wenn wir den Schulen einfach das Geld überwiesen hätten. Ich habe großes Vertrauen in die Schulen und glaube auch, dass sie die richtigen Beschaffungen gemacht hätten und nicht einfach nur unnützen Kram gekauft hätten. Stattdessen hat man, wie es üblich ist bei uns, eine große Bürokratie aufgebaut und ein aufwendiges Antragsverfahren dazwischengeschaltet. Dann wundert man sich, dass bisher so wenig Geld abgerufen wurde. Man muss den Schulen die Mittel zur Verfügung stellen und dann muss man den Schulen einfach mal vertrauen, dass sie das Richtige machen.
Das hat auch die Corona-Pandemie gezeigt: Die Schulen haben sich auf den Weg gemacht und haben ganz viel Eigeniniative gezeigt und die Digitalisierung vorangetrieben. Die ersten einheitlichen Vorgaben kamen erst, als die Schulen unterwegs waren und schon längst Distanzlernen gemacht haben. Das zeigt noch einmal, dass das Vertrauen gerechtfertigt gewesen wäre.
Was nehmen Sie bezogen auf die Schulen aus der Corona-Zeit mit? Spätestens jetzt muss jedem klar geworden sein, dass die Digitalisierung die große Chance auf die Individualisierung von Lernprozessen bietet. Wir haben gesehen, dass es einen ganz anderen Kontakt zwischen Lehrkräften und Schüler(innen) gibt, wenn die Lehrkraft plötzlich nicht 32 Schülerinnen und Schülern eine Frage stellt und einer sie richtig beantwortet und keiner weiß, was eigentlich in den anderen 31 Köpfen los gewesen ist. Jetzt gibt es eine individuelle Rückmeldung im Distanzlernen auf die Aufgaben und Antworten der Schülerinnen und Schüler. Das ist ein wahnsinniger Vorteil. Wir brauchen das soziale Miteinander der Schule. Wir müssen aber die Lehre daraus ziehen, dass sich in der Individualisierung der Lernprozesse für viele Kinder auch eine bessere Fördermöglichkeit bietet.
Informationen zu Björn Försterling
Björn Försterling, geboren am 23. Juli 1982 in Wolfenbüttel ist seit 2008 Abgeordneter des Niedersächsischen Landtags. Seit seinem 16. Geburtstag ist Försterling, der sich nach eigener Aussage schon immer für Politik interessierte, Mitglied der FDP. Von 1998 bis 2004 war er Mitglied im Vorstand des FDP-Stadtverbands Wolfenbüttel, zunächst als Schriftführer und Pressesprecher, ab 2002 als Vorsitzender. Schul- und Bildungspolitik sind für den 39-Jährigen die wichtigsten landespolitischen Themen. Nach dem Abitur am Gymnasium im Schloss durchlief er eine Ausbildung für den gehobenen Steuerverwaltungsdienst im Finanzamt Wolfenbüttel und an der Niedersächsischen Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege in Rinteln, die er als Diplom-Finanzwirt (FH) abschloss. Björn Försterling war anschließend bis zur Landtagswahl 2008 als Steuerinspektor im Finanzamt Wolfenbüttel tätig. Er engagiert sich im Rahmen der FDP-Fraktionsvorsitzendenkonferenz in der Arbeitsgruppe Bildung, die er seit 2011 als Vorsitzender leitet. Im September 2017 wählten die Mitglieder der FDP-Landtagsfraktion Försterlin zum stellvertretenden Vorsitzenden ihrer Fraktion.