Herr Bratmann, wie nehmen Sie als Familienvater aktuell den Distanzunterricht wahr? Meine elfjährige Tochter ist jetzt in der 5. Klasse und arbeitet nebenan gerade mit IServ. Als Vater mache ich derzeit ganz unterschiedliche Erfahrungen. Als am 13. März 2020 die Schulen schlossen und auch über die Osterferien und bis Mitte Mai geschlossen blieben, war es tatsächlich so, dass die Aufgaben aus der Schule einmal pro Woche zum Ausdrucken per E-Mail kamen. Das war relativ wenig. An der Grundschule meiner Tochter haben auch keine Videokonferenzen stattgefunden. An dieser Stelle ist deutlich geworden, dass die Schulen das ganz unterschiedlich handhaben und viele offensichtlich auch noch damit überfordert waren, Online-Unterricht durchzuführen.
Nach den Sommerferien war es an der neuen Schule meiner Tochter anders. An diesem Braunschweiger Gymnasium finden morgendliche Videokonferenzen statt. Morgens um 7:40 Uhr startet der Schultag mit IServ: Es gibt Aufgaben zu bewältigen, Arbeitsblätter zu bearbeiten und Lösungen hochzuladen. Das ist wesentlich stringenter. Das Problem ist aber auch dort, dass nicht alle Schülerinnen und Schüler der Klasse an diesen Videokonferenzen teilnehmen. Auch da gehen ein paar verloren, die aus unterschiedlichen Gründen bereits morgens nicht dabei sind und ihre Aufgaben nicht hochladen. Da zeigt sich, dass Homeschooling in digitaler Form besser funktioniert, aber auch noch lange nicht alle erreicht werden. Das ist aber, glaube ich, ein generelles Problem.
Wie kann man diesem Problem begegnen? Hier sind die Lehrkräfte und auch die Schulsozialarbeit gefragt. Es ist ganz wichtig nachzufassen. Dass auch Eltern zu Hause angerufen werden und ihnen damit signalisiert wird, dass die Schule sich kümmert und sie nicht mit ihrer Situation allein lässt. Das hat mitunter gar nichts mit sogenannten bildungsfernen Haushalten zu tun. Manche Eltern denken, Homeschooling sei ein Angebot, bei dem sie die Wahl haben, ob ihr Kind daran teilnimmt oder nicht. Doch hier besteht Schulpflicht! Es ist zwingend, dass die Kinder und Jugendlichen daran teilnehmen.
Viele Schulen legen darauf bereits in besonderem Maße Wert, aber eben nicht alle. Wir müssen tatsächlich dorthin kommen, dass es alle machen und beiderseitig das Bewusstsein geschärft wird: Bei den Eltern, die daheim die Voraussetzungen für die Teilnahme am Distanzunterricht schaffen müssen und auf der anderen Seite bei den Schulen, zu deren Aufgabe es gehört, nachzuhaken und sich auch dafür zu interessieren, in welcher Situation die Schülerinnen und Schüler gerade leben und wie sie mit den Aufgaben klarkommen. Diese neue Situation war und ist eine ziemliche Herausforderung, vor die unsere Schulen in den letzten 12 Monaten gestellt wurden.
Welches sind die anderen großen Probleme, mit denen sie durch Eltern konfrontiert werden? Eltern, die ihre Sorgen an uns herantragen, sind in der Regel sehr am Bildungserfolg ihrer Kinder interessiert und haben große Bedenken, dass die Kinder weniger Chancen erhalten, weil sie vor allem Unterrichtsstoff verpassen. Auch das fehlende Zusammensein mit Mitschülerinnen und Mitschülern ist da ein Thema. Gerade bei den Eltern jüngerer Jahrgänge, wo die Situation auch pädagogische Konsequenzen hat, wächst die Sorge vor einer „Generation Corona“, die unterm Strich benachteiligt ist. Das darf nicht passieren!
Dann gibt es natürlich auch Eltern, die sich nicht unbedingt an das Kultusministerium wenden. Die, die von vornherein nicht die besten Bedingungen zu Hause bieten können, die in Überforderungssituationen sind. Hier kommen wir zu diesem unschönen Wort „bildungsfern“. Hier geht es doch in Wirklichkeit darum, dass diese Kinder eine gewisse Vernachlässigung erfahren und nicht die Stringenz dahintersteckt, dass sie ihren schulischen Aufgaben nachkommen. Das weitaus größere Problem ist nicht versäumter Unterrichtsstoff, sondern eher das pädagogische Miteinander. In ihrer Situation sind manche Kinder und Jugendliche auf sich gestellt und manche Eltern schlichtweg überfordert.
Gibt es für derart komplexe Problemstellungen überhaupt funktionierende Lösungen? Wir sind dabei Kapazitäten zu schaffen. Einerseits sollen die Lehrkräfte, aber auch die Schulsozialarbeit und Schulpsychologen, die Möglichkeit haben nachzuhaken und zu versuchen, die Familien und natürlich die Kinder und Jugendlichen zu erreichen. Andererseits geht es um die Zusammenarbeit mit der örtlichen Jugendhilfe. Die hat ganz andere Zugriffsmöglichkeiten. In Braunschweig haben beispielsweise die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, aber auch die Erziehungsberatung, Möglichkeiten, der Problematik entgegenzuwirken, dass Familien in Corona-Zeiten sehr stark auf sich gestellt sind und die Probleme, die mitunter schon vorhanden waren, dadurch potenziert werden.
Die Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe wird gerade organisiert. So braucht es beispielsweise auch in den Ferien verstärkt die Möglichkeit, unter Betreuung den versäumten Unterrichtsstoff aufholen zu können und dabei auch das pädagogische Miteinander zu erfahren. Gute Ansätze hat es da in den letzten Sommerferien bereits gegeben. Die muss es auch in diesem Jahr wieder geben, sofern es die Pandemie-Situation zulässt. Aber da bin ich hinsichtlich der Sommerferien optimistisch.
Und natürlich braucht es nach wie vor alle Möglichkeiten der Digitalisierung! Wir müssen sie nutzen, um die Schülerinnen und Schüler zu erreichen. Auf mehreren Ebenen wird derzeit daran gearbeitet. Wir sind naturgemäß im niedersächsischen Landtag nicht immer einer Meinung. Unter den Fraktionen herrscht aber großer Konsens, dass wir die Kinder besser erreichen müssen, dass wir die Jugendhilfe einbinden müssen, dass wir alles versuchen müssen, damit keine verlorene „Generation Corona“ entsteht. Es gibt Streit darüber, wie wir das am besten machen, aber das ist ein sehr konstruktiver Streit.
Wenn Corona demzufolge ein Beschleuniger der Digitalisierung ist, was fehlt uns denn noch auf dem Weg zu einer intuitiven digitalisierten Schule? Ich bin ja immer geneigt, das Positive in den Dingen zu sehen. Tatsächlich ist einiges vorangekommen. Wir stehen aber vor drei großen Herausforderungen. Der Breitbandausbau und die Breitbandversorgung sind ein Thema, das uns in ganz Deutschland beschäftigt. Es gab Versäumnisse in den letzten Jahrzehnten, als mehr auf Kupferkabel gesetzt wurde und weniger auf Glasfaserkabel. Das war im Nachhinein ein großer Fehler. Deshalb haben uns andere Länder, insbesondere auch Länder aus dem sogenannten früheren Ostblock, überholt. Die hatten nicht die Gelegenheiten, in den Neunziger Jahren die Fehler zu begehen, die wir uns in den Achtzigern in Deutschland erlaubt haben. Bei diesem klassischen Strukturproblem müssen wir nun versuchen aufzuholen. Es braucht den Breitbandausbau, damit wir generell ein schnelleres Internet haben und keine Regionen bei der Digitalisierung abgehängt werden.
Das zweite Thema ist die Akzeptanz, sowohl bei Lehrkräften als auch bei den Eltern. Ich glaube, bei den Schülerinnen und Schülern muss man sich da eher weniger Sorgen machen. Die sind digital unterwegs. Ab einem gewissen Alter haben die alle ihre Smartphones oder Tablets und sind damit in der Regel fitter als ihre Eltern und mitunter auch als die Lehrkräfte. Das Thema Digitalisierung braucht bei Lehrerinnen und Lehrern Akzeptanz und setzt Bereitschaft voraus. Schon vor Corona gab es Leuchtturm-Schulen, die hervorragend ausgestattet und schon relativ gut im digitalen Unterricht unterwegs waren. Das hing aber mitunter tatsächlich von Einzelpersonen ab. Von engagierten Schulleitungen oder von Lehrkräften, die sich da über das übliche Maß hinaus eingebracht und über Partnerschaften und Kooperationen dafür gesorgt haben, dass die Schulen eine entsprechende Ausstattung hatten. Das war nicht selbstverständlich. Wir müssen aber davon wegkommen, dass es von besonders engagierten Pädagogen abhängt, sondern zum Standard an allen Schulen wird. Deshalb ist es wichtig, dass die Lehrkräfte sich fortbilden. Im letzten Jahr haben über 75 Prozent der Lehrkräfte aus Niedersachsen erfolgreich eine Fortbildung im Bereich Digitalisierung absolviert. Das ist gut so und muss noch stärker in der Lehrerausbildung verankert werden.
Damit all das wie selbstverständlich in den Schulalltag übergehen kann, ist es drittens auch eine Frage der Ausstattung. Deutschland ist gut organisiert, was manchmal zum Nachteil werden kann, weil wir zuweilen überbürokratisieren. Stringente Vergaberichtlinien wirken Korruption entgegen, sind mitunter aber ein großes Problem, wenn es darum geht, schnell und flexibel für eine digitale Ausstattung zu sorgen. Die Mittel vom DigitalPakt Schule werden jetzt Stück für Stück abgerufen, aber ich hätte mir auch gewünscht, dass vieles schneller geht. Wir sind auf dem Weg, aber wir müssen an der ein oder anderen Stelle flexibler werden. Wie an den vorher erwähnten Herausforderungen wird auch daran gearbeitet, aber es wird noch ein bisschen dauern.
Das Gute ist aber, dass die Digitalisierung der Schulen jetzt in aller Munde ist. Das war vor einem Jahr noch nicht so. Alle haben im Angesicht von Corona erkannt, dass dieses Thema wichtig ist. Von daher hat die Corona-Pandemie einiges auf den Weg gebracht und einiges beschleunigt, was sonst wahrscheinlich noch länger gedauert hätte.
Als vierte wichtige Herausforderung steht das Thema Datenschutz zur Debatte. Es wird gerade immer wieder mal diskutiert, ob man vielleicht etwas lockerer damit umgehen sollte. Wie ist da Ihr Standpunkt? Auch hier ist das richtige Maß wichtig. Das ist so ähnlich wie bei den Vergaberichtlinien. Genauso wie die wichtig gegen Korruption sind, ist der Datenschutz wichtig, um Datenmissbrauch entgegenzuwirken. Aber wir erleben mit der sogenannten Corona-App, dass wir in einem wichtigen Bereich nicht wirklich vorankommen, weil ihre Nutzung rein auf Freiwilligkeit basiert. Und ich glaube, das gilt auch für das Thema Schuldigitalisierung. Auf der einen Seite sind Menschen bereit, ihr ganzes Leben in sozialen Netzwerken zu verbreiten. Auf der anderen Seite ruft man sofort nach Datenschutz, wenn es um die Digitalisierung in der Schule oder um den Bereich App-Lösungen im Gesundheitsbereich geht. Wir brauchen keine absoluten Lösungen, sondern eine dynamische Debatte, wo der Datenschutz uns daran hindert, zu guten Lösungen zu kommen. Priorisieren wir die Schuldigitalisierung oder den Datenschutz? Oder können wir nicht sogar beides irgendwie zueinander bringen?
Was nehmen Sie als Familienvater, Bildungspolitiker und Lehrer mit aus der Corona-Krise? Als Lehrer habe ich nicht mehr aktiv gearbeitet, seitdem ich Mitglied des niedersächsischen Landtages bin. Ich frage mich aber manchmal, wie das in Pandemiezeiten wäre und versuche mich in meine früheren Kolleginnen und Kollegen, insbesondere an berufsbildenden Schulen, wo ich ja selbst auch tätig war, hineinzuversetzen.
Aus dieser Zeit nehme ich auf jeden Fall mit, dass es für mich persönlich herausfordernd war. Nun haben wir „nur“ ein Kind, von daher ist die häusliche Situation in Ordnung und wir haben das gut gelöst. Meiner Tochter fehlen zwar die Mitschülerinnen und Mitschüler, aber ich glaube, sie wird davon keine größeren Schäden davontragen. Sie freut sich darauf, wenn die Schule wieder los geht.
Ich kenne aber auch viele Familien mit mehreren Kindern, bei denen es anders aussieht. Wo es wesentlich problematischer ist und mit massivem Stress verbunden, Homeoffice und Homeschooling unter einen Hut zu bringen. Das hat schon ganze Familien an den Rand des Ertragbaren geführt - und auch darüber hinaus. Wir müssen also besser gewappnet sein für eine solche Situation, mit der noch vor 14 Monaten niemand in diesem Ausmaß gerechnet hat. Das zeigt natürlich auch, dass Lösungen, die wir jetzt schnell mit der heißen Nadel gestrickt haben, durchaus über den Zeitpunkt der Corona-Pandemie hinaus Bestand haben werden.
Homeoffice und Schuldigitalisierung werden nach der Corona-Pandemie einen anderen Stellenwert haben als vorher. Von daher hoffe ich auch, dass gesellschaftliche Solidaritäten einen anderen Stellenwert haben werden. Wir kommen nur durch diese Pandemie, wenn wir aufeinander achtgeben und auch bereit sind, den Schwächeren zu helfen oder sie vorzulassen, beispielsweise bei der Impfstrategie.
Grundsätzlich ist meine Hoffnung für das Frühjahr, dass wir zu anderen Lösungen kommen als einem Lockdown. Ich merke, dass wir ein gesellschaftliches Klima haben, in dem Dauerlockdowns nicht mehr akzeptiert werden. Vor einem Jahr war die Akzeptanz noch groß, aber gegen Ende des Jahres schwindend. Obwohl die meisten Menschen vernünftigerweise anerkannt haben, dass wir wegen der steigenden Zahlen wieder in einen Lockdown gehen mussten, schwindet jetzt die Akzeptanz. Das heißt, wir brauchen jetzt andere und intelligentere Lösungen als alles zu schließen. Das gilt sowohl für den Bildungsbereich als auch für alle Bereiche des Handels und der Dienstleistung, sonst werden die Auswirkungen fatal sein. Zum Teil werden es digitale Lösungen sein über funktionierende Apps, aber auch Tests und Impfungen bleiben natürlich wichtig. Ich hoffe, dass wir in drei bis vier Monaten anders dastehen als jetzt – das hoffe ich ganz persönlich, aber auch als Politiker.
Vielen Dank für das Gespräch!
Informationen zu Christoph Bratmann
Christoph Bratmann, geboren am 23. September 1969 in Braunschweig, setzt sich nach eigener Aussage gern für die Belange der Löwenstadt und ihrer Menschen ein. Seit 2015 ist der diplomierte Erziehungswissenschaftler Vorsitzender der SPD-Ratsfraktion im Rat der Stadt Braunschweig, seit 2013 vertritt er den Wahlkreis Braunschweig-West als Abgeordneter im Niedersächsischen Landtag. Dort ist Christoph Bratmann unter anderem Mitglied im Kultusausschuss. Vor seinem Mandat arbeitete der Sozialdemokrat als Studienrat.