Ein Widerspruch im Quadrat
Wir leben in einer Zeit der Widersprüche. Das ist ein Allgemeinplatz. Corona und die Folgen haben aber gezeigt, dass Widersprüche soweit gehen, dass sie zu nicht mehr auflösbaren Knoten führen können. Ein gutes Beispiel ist das Abitur. Man kann nur mutmaßen, warum unbedingt am Abitur festgehalten werden soll: Neben einer Zertifikat-Gläubigkeit geht es anscheinend darum, dass den momentanen jungen Menschen keine zusätzlichen Nachteile entstehen. Zumindest wird das behauptet.
Andrerseits rufen die Mahner schon seit längerer Zeit von den Dächern, dass die Kinder und Jugendlichen einen Malus fürs Leben haben werden, weil ihnen wichtige Inhalte entgehen. Was denn jetzt? Ist das Abitur noch zu retten, indem es geschrieben wird oder ist es selbst dann grundsätzlich wertlos?
An dieser Stelle zeigt die von Bürokratie, Bewertung und Beibehaltung geprägte deutsche Bildungspolitik vor allem das Unverständnis dessen, was auch so in Schulen passiert. Wir haben es nicht mit einem Strohmann-Argument, sondern gleich mit den ganzen Bremer Stadtmusikanten aus Stroh zu tun. Ein Strohmann-Argument bedeutet ja landläufig, dass man ein Argument anbringt, das bei näherer Betrachtung ins Leere läuft. Unsere Strohfigur, für die die bekannten Tiere des Märchens der Gebrüder Grimm herhalten müssen, hat vier Bestandteile, die allesamt aus Strohmännern (oder –tieren) bestehen.
Der Esel: Die Grundlage der Entscheidung für ein Abitur in Präsenz ist, dass nur die Prüfung die Hochschulreife bescheinigt.
Der Hund: Darauf aufbauend heißt es, dass nur dann die Bildungsbiographien nicht gefährdet werden.
Die Katze: Die Überzeugung, dass überhaupt nur eine Situation, in der sich jeder einzeln für Stunden zu einer vorgegebenen Frage äußert, eine Aussage über die Bildung sagt, steht über dem Argument.
Der Hahn: Der Hahn kräht die schon angesprochene Meldung aus seiner Kehle: Selbst wenn ihr das alles tut, ihr seid sowieso verloren.
Eineinhalb Jahre gearbeitet! Zusammen!
Bei aller Polemik könnte man erwidern, dass sich doch auch Schüler wünschen, dass das Abitur stattfindet. Wenigstens ein wenig bürokratische Normalität in Zeiten der Unsicherheit. Gerade jenen Schülerinnen und Schülern, die nochmals zeigen wollen, was sie können, ist das sicherlich nicht zu verübeln.
Der Punkt ist ein anderer: Selbst wenn sämtliche Fähigkeiten und Kompetenzen, die Schülerinnen und Schüler unabhängig vom Stoff erlernt haben, ignoriert werden – man denke an das digitale Arbeiten, Kommunikationsregeln, E-Mail-Verkehr, oftmals die Nutzung digitaler Anwendungen. Oder extrem wichtige Softskills wie Frustrationstoleranz, Ambiguitätstoleranz, Geduld, Zusammenarbeit und vieles mehr. Und das werden sie. Sie werden ignoriert. Über diese spricht nur ein kleines gallisches Dorf in einer Nische des Internets.
Selbst dann also kann ich zusammen mit tausenden Lehrerinnen und Lehrern behaupten: Wir haben eineinhalb Jahre gearbeitet! Zusammen! Meine Schülerinnen und Schüler haben nicht mehr oder weniger die Hochschulreife, wenn sie sich nochmal sechs Stunden in ein Klassenzimmer setzen, und sich, so ganz nebenbei, der Gefahr eine gefährlichen Corona-Variante aussetzen.
Das zu begreifen, ist die erste Aufgabe jener Hähne, die momentan von den Dächern (und Katzen) krähen. Die zweite Aufgabe ist eine andere, größere, umfangreichere: Es muss endlich darüber geredet werden, wie man der festgestellten Situation nach der Schule gerecht wird. Schulen können nicht sämtliche gesellschaftliche Missstände auffangen, zumal in und nach einer Pandemie. Anstelle über Samstagsunterricht, Ferienunterricht und die Wiederholung des Schuljahres zu sprechen, sollten sich endlich jene Institutionen zusammenschließen, zu denen die Schüler nach der Pandemie strömen werden. Sie werden im besten Fall junge Erwachsene erleben, die deutlich besser selbstständig arbeiten oder dazu digitale Medien nutzen können.
Aber klar: Es wird Lücken geben. Wie gedenken die weiterführenden Schulen, Hochschulen und Ausbildungsbetriebe dem zu begegnen? Das ist die entscheidende Frage. Möglich ist es, denn ansonsten hätten sowohl die Verkürzung der Schulzeit auf G8 als auch die massiven Unterschiede zwischen den Ländern längst zu einer Bildungskatastrophe geführt. Dass dies nicht der Fall ist, liegt auch daran, dass man sich mit der Situation auseinandersetzen musste.
Und zwar nicht, indem man Strohmänner aufeinanderstapelt und versucht, dass doch alles irgendwie so bleibt, wie es ist. Sondern indem man konstruktiv darüber nachdenkt, welche Maßnahmen nun zu ergreifen wären. Was meine Schüler angeht: Die werden ihren Weg gehen, das weiß ich. Ob sie nun die letzte Klausur schreiben oder nicht, ist dabei zweitrangig. Prioritäten, so wichtig!
Dies ist ein Kommentar von Bob Blume. Die Meinung des Autoren entspricht nicht zwingend der Meinung unserer Redaktion.