Silke Müller, die Waldschule Hatten gilt in Niedersachsen als digitale Vorzeigeschule. Verraten Sie uns Ihr Geheimnis? Es war vielleicht clever, ganz früh angefangen zu haben. Das waren Kolleginnen und Kollegen, die in Eigeninitiative gehandelt und sich gesagt haben: „Kommt, Leute, lasst uns anfangen und Technik in die Schule holen.“ Das war der Start der Digitalisierung in unserer Schule und fing an mit Laptop-Klassen, aus denen später iPad-Klassen wurden. Wir haben von Beginn an ganzheitlich betrachtet, wie Kinder technisch arbeiten können. Das ist kein System für ein bestimmtes Fach und wurde relativ schnell der Übergang zu einem größeren Konzept, weil kleine Veränderungen im Hirn genauso wirken wie große. Warum sollten wir dann nicht gleich im Großen Veränderungen anstreben und schneller damit durch sein?
Als wir 2009 großflächig digitalisiert haben, gab es dafür noch keine Landesmittel. Wir haben die Jahrgänge nur mit Hilfe der Eltern ausstatten können. Die Finanzierung durch sie lief perfekt und ihre Unterstützung war und ist nach wie vor ganz großartig. Auch haben wir als Schule die Digitalisierung als Normalität angesehen, immer wieder evaluiert, reflektiert und geschaut, was in diesem Kontext gut funktioniert und was nicht.
Digitalisierung als Normalität – lässt sich diese Idee auf andere Schulen übertragen? Wir haben jetzt 2021. Wenn man jetzt immer noch darüber diskutiert, ob Digitalisierung einen Mehrwert hat oder nicht, dann bin ich ehrlich gesagt ein wenig schockiert und denke: „Alles klar, es wurde noch immer nicht verstanden.“ Es geht gar nicht um einen Mehrwert. Das Digitale ist bereits da. Die Kultur der Gesellschaft ändert sich hin zu einer Kultur der Digitalität. Es geht eher darum, Zukunftskompetenzen aufzubauen. Und die erlange ich nur, wenn ich digitale Technologien als normalen Bestandteil aller Prozesse verstehe.
Ihre Schule arbeitet bereits seit über 12 Jahren digital. Haben sie nicht alleine deshalb schon einen enormen Vorsprung? Die Erfahrungswerte und die Expertise, die wir über die Jahre aufgebaut haben, sind vielleicht gut. Sie bedeuten aber nicht, dass wir die Dinge anders und viel besser machen, sondern einfach länger. Davon profitieren wir und davon profitieren andere Schulen, wenn sie bei uns hospitieren oder Tipps erfragen.
Der zeitliche Vorsprung bringt auch nicht nur Vorteile. Wir sehen auch, was wir hätten anders machen können. Wenn die Waldschule Hatten noch einmal neu anfangen könnte, würde ich viele Dinge anders angehen. Man lernt mit der Zeit unglaublich viel dazu. Zum Glück hatten wir IServ schon 2009, und das war ganz früh.
Der IServ war Ihre Grundlage zur Digitalisierung? IServ ist das strukturelle Herz der Schule und der Digitalisierungsprozesse. IServ unterscheidet sich deutlich von anderen schulischen Serversystemen oder Serverlösungen, weil es ein Rundum-sorglos-Paket ist. Wir haben die schulische Kommunikationsstruktur, das Dateienablagesystem oder die Anbindung zur Niedersächsischen Bildungscloud. Da sind ganz viele tolle Module dabei, mit denen man wirklich arbeiten kann. Schulen, die IServ nutzen können, sind wirklich gut aufgestellt.
Vielen Dank, das Lob nehmen wir natürlich sehr gerne mit. Ganz ehrlich: Wenn mir jemand sagen würde, übermorgen stellen wir IServ ab, würde ich wohl panisch durch die Gegend laufen, Schnappatmungen kriegen und schreien: „Ahhh, unsere Schule bricht zusammen, ab jetzt läuft alles durcheinander“. IServ ist schon echt tatsächlich das technische Herz und der Motor unserer Schule.
Bleiben wir gedanklich bei der digitalen Vorzeigeschule. Muss man sich die überspitzt so vorstellen, dass die Schülerinnen und Schüler den ganzen Tag vor einem Computer sitzen? Digitale Vorzeigeschule bedeutet für mich, dass man Digitalisierung nicht durch das Vorhandensein von Technik begreift, sondern eigentlich eher undigital quirlig und lebendig wirkt. Wenn es so normal geworden ist, dass man nicht mehr durch die Schule läuft und über tolle Panels staunt. Man erkennt zeitgemäße Prozesse – eigentlich mag ich das Wort Digitalisierung nicht – eher im Kleinen. Die Schülerinnen und Schüler sind ganz viel unterwegs, sie lernen mobil mit ihren Tablets irgendwo auf dem Schulgelände. Sie erstellen Erklärvideos und filmen sich gegenseitig dabei. Wie gesagt stehen veränderte Lern- und Lehrformen im Vordergrund, digitale Settings sind dabei nur Mittel zum Zweck, nicht mehr, nicht weniger.
Hat sich der Unterricht durch die „zeitgemäßen Prozesse“ grundlegend verändert? Zumindest bei den Kolleginnen und Kollegen, die verstanden haben, was mobiles und auch selbstwirksames Lernen bedeutet. Sie sind mit ihren Klassen gar nicht mehr so oft statisch in ihren Klassenräumen, sondern durchlaufen eine Input-Phase. Die Kinder arbeiten dann dort, wo sie es für sinnvoll erachten. Wir haben dafür ganz viele kleine Lerninseln hier in der Schule geschaffen. Zum gemeinsamen Abschluss geht es dann wieder zurück ins Klassenzimmer.
Und das funktioniert wirklich problemlos bei Heranwachsenden, die medial sehr vielen Ablenkungen ausgesetzt sind? Natürlich kann das auch mal schiefgehen. Die Kinder unterhalten sich, wie wir Erwachsenen übrigens auch, über alles Mögliche. Aber je öfter die handlungsorientierten Methoden trainiert werden, desto besser werden die Ergebnisse. Das liegt vor allem daran, dass die Schülerinnen und Schüler merken, dass jeder von ihnen Teil einer Gemeinschaft ist, der mitgestaltet, der ernst genommen wird und der wichtig ist. Bis zu dieser Erkenntnis dauert es manchmal ein wenig. Man muss auch loslassen können und damit leben können, wenn die Kinder mal eine Viertelstunde in der Gruppenarbeit waren und mit nichts zurückkommen. Aber es lohnt, sich auf diesen Prozess einzulassen, und es macht übrigens auch Spaß. Wenn man dann sieht, welche tollen Ergebnisse die Kinder bringen, weil sie von dem Thema gefesselt sind, dann ist das ganz großartig. Eine digitale Vorzeigeschule zeichnet also unterm Strich ihre Haltung zur Digitalisierung aus.
Warum ist die Schuldigitalisierung so wichtig für Schülerinnen und Schüler? Welche Erkenntnisse haben Sie da über die Jahre gewonnen? Die lauten in erster Linie Selbstständigkeit, Selbstwirksamkeit und Selbstbewusstsein. Digitales und mobiles Arbeiten haben ganz viel mit der Kommunikation untereinander zu tun. Niemand kann sich da in seine Komfortzone zurückziehen. Wir kennen das: Hinten in den Klassenraum setzen und warten, bis die Lehrkraft fertig ist. So funktioniert das nicht mehr. Ich muss viel eher aktiv werden und wenn ich nicht selbst aktiv bin muss ich damit rechnen, dass ich in eine aktive Rolle gedrängt werde. Natürlich führt das dazu, dass Kinder vielleicht auch ein demokratisches Bewusstsein aufbauen, weil sie ihre Stimme anders wahrnehmen – nicht im Sinne von laut und leise, sondern mit dem Bewusstsein, dass sie über Teilhabe etwas bewirken können, selbstwirksam sind. Diese Gestaltungsmöglichkeiten befähigen Kinder dazu, mutiger und neugieriger zu sein. Das verändert Kinder, Charaktere und Persönlichkeiten. Das ist ein sehr großer Vorteil.
Das Credo Ihrer Schule lautet: Erfolg, Verlässlichkeit und Humor. Ist das Ihrer Meinung nach das Wichtigste, was Schule ihren Schülerinnen und Schülern vermitteln sollte? Man könnte die Begriffe noch um „Mut, Neugier und Selbstwirksamkeit“ ergänzen, aber unsere jetzigen Begriffe implementieren sehr viel. Mit „Erfolg“ ist nicht die 1+ in Mathe oder die 2 in Deutsch gemeint, sondern der Erfolg bei der Persönlichkeitsentwicklung, und das implementiert all das. Erfolgreich bin ich, wenn ich ein selbstbewusster, fröhlicher Mensch bin und meine Stimme erheben mag. Dann sind wir auch als Schule erfolgreich. Aber natürlich gehört es als Schule auch dazu, Bildungsabschlüsse zu vermitteln.
„Verlässlichkeit“ ist als zweiter Begriff nicht so gemeint, dass die Schule von 8 bis 14 Uhr geöffnet hat. Es geht darum, dass die Eltern und die Gesellschaft sich darauf verlassen können, dass wir als Schule versuchen, Persönlichkeiten heranzuziehen, die unsere Gesellschaft mitgestalten und Einfluss auf ihre Gestaltung nehmen.
Und „Humor“ ist für mich das Allerwichtigste! Ich finde nichts schlimmer, als wenn wir Lehrer keinen Spaß verstehen. Ich glaube, dass sich mit Humor die Tendenzen unserer Gesellschaft viel besser aushalten und vor allem regulieren lassen. Es gibt nichts Schöneres, als gemeinsam zu lachen. Wenn die Schüler einen Spruch machen, dann mache ich eben einen kreativen Spruch zurück und dann ist alles wieder gut. Humor ist Lebenselixier, auch bei der Charakterbildung. Das alles ist für mich persönlich total wichtig.
Welchen wichtigen Ratschlag würden Sie den Schulen auf dem Weg zur Digitalisierung an die Hand geben? Seid schnell, konsequent und mit dem richtigen Fokus unterwegs. Letzterer liegt nicht auf der Technik. Die muss ohnehin das Fundament bilden und das brauchen wir. Dass wir dennoch immer über fehlende Technik an Schulen diskutieren müssen, ist ein Armutszeugnis für unser Land. Der richtige Fokus liegt für mich in Zielen wie der Vermittlung von IT-Kompetenzen. Die Kinder sind „Wischer“ geworden. Sie können wischen, wischen, wischen und eine App herunterladen. Wenn es aber darum geht, eine Anrede in der E-Mail zu schreiben ist es oft schon vorbei – übrigens auch bei uns. Schlichte IT-Kompetenzen bedeuten aber auch immer noch, das Ordnungssystem oder ein Word-Dokument zu formatieren. Das sind Dinge, die leider in den Hintergrund geraten sind.
Ein weiteres Ziel ist es, ein Grundverständnis für Künstliche Intelligenz aufzubauen – nicht nur bei Schülerinnen und Schülern, sondern auch bei uns Lehrkräften. Am Ende des Tages muss ich ein Grundverständnis haben und verstehen, was Künstliche Intelligenz überhaupt ist und bedeutet – aber auch, welchen Einfluss und Manipulationskraft sie hat.
Das dritte Ziel ummantelt alles: Die digitale Ethik. Unsere Gesellschaft scheint (nicht nur) im Netz zu verrohen, sich zu radikalisieren und vor allem toleranz- und respektlos zu werden. Trends und Likes haben einen größeren Einfluss auf Kinder, als wir erkennen. Es ist notwendig, einen Blick in die tatsächliche Lebenswelt der Kinder zu erhalten und sie bei dem, was sie im Netz erleben, an die Hand zu nehmen. Selbst dann, wenn auch wir Erwachsenen nicht immer die richtigen Antworten oder Lösungen finden.
Was bringt uns das gerade begonnene Schuljahr? Haben wir aus der Pandemie ausreichend gelernt oder folgt im Spätherbst schon wieder der nächste Lockdown? An einen weiteren Lockdown glaube ich derzeit nicht. Wenn es jetzt einigermaßen läuft, müssten wir mit gewissen Einschränkungen wie Quarantänemaßnahmen gut leben können. Ich hätte auch keine Sorge vor einem weiteren Lockdown, wären die Homeschooling-Konzepte überall wirklich sauber durchdacht. Wir sind unterm Strich relativ gut durch die Krise gekommen, weil wir die Kinder beispielsweise auch mit den IServ-Videokonferenzen täglich einmal kurz vor der Kamera hatten. Rückblickend hatten wir insgesamt ein gutes Konzept und haben nach der Pandemie weder große Schwachstellen noch Bildungsnachteile feststellen können.
Wir haben demnach alle viel gelernt und die Entwicklung der Schuldigitalisierung wurde ebenfalls beflügelt? Der Fokus ist im negativen Sinne eher ein bisschen verschoben worden. Ich habe große Bedenken und auch Ängste. In Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen, aber auch anderen Akteurinnen und Akteuren, bemerke ich vermehrt, dass die Aussage „Jetzt aber endlich wieder ganz normal unterrichten und bloß nichts Neues“ oft zu hören ist. Das kann zu einem Problem werden und unter Umständen sogar für Rückschritte sorgen. Die Digitalisierung hat in der Pandemie einen enormen Schub bekommen, gerät jetzt aber ins Stocken.
Ein Beispiel: Weil der Bund Geld bereitgestellt hat, laufen jetzt überall die Lehrer-Tablets ein. Für viele Lehrkräfte ist das aber zu spät. Sie haben sich die Geräte schon längst privat gekauft. Andererseits beobachte ich in letzter Zeit häufig zum Beispiel auf Twitter Stimmungen wie: „Die Sommerferien hätten länger sein müssen“ oder „Ich bin nicht erholt“ oder „Ich bin völlig fertig“ und denke dabei vorsichtig: „Wir hatten sechs Wochen Sommerferien!“ Andere Menschen, die in anderen, sicher auch sehr fordernden Berufen arbeiten, sind froh wenn sie überhaupt Sommerurlaub machen konnten und haben vielleicht zwei Wochen Urlaub am Stück gehabt. Das wirft öffentlich kein gutes Bild auf unseren Berufsstand. Gleichzeitig sehe ich aber auch ein enormes Maß an Belastung und Anstrengung. Die Pandemie hat im sozialen Miteinander sehr an den Nerven gezehrt und es braucht Zeit, sich in der Gemeinschaft wieder einzufinden.
Erschreckend daran finde ich, dass es auch genau zeigt, wie die Entwicklung gerade stockt. Im Moment tritt das ein, wovor ich schon vor der Pandemie große Sorge hatte. Viele von uns im Entwicklungssystem haben diesen Stillstand bereits realisiert. Die Entwicklung wieder anzukurbeln wird eine harte Aufgabe. Wir haben da an der Waldschule den Vorteil, dass wir von vornherein digital gearbeitet haben. Die Tablets und IServ waren ja schon Bestandteil des Unterrichts. Auch ziehen dank der digitalen Formate immer neue Prüfungsformen bei uns ein.
Wem oder was ist diese Entwicklung des Stillstandes zuzuschreiben? Daran sind wir ehrlich gesagt alle selbst mit Schuld. Natürlich hätte auch die Politik möglicherweise mehr Druck ausüben können, zum Beispiel mit Verpflichtungen wie der Umstellung der Lehrpläne auf mehr Digitales. Aber der Ruf nach Präsenz und weniger nach Entwicklung herrschte leider vor. Der größte Hemmfaktor bei der Schuldigitalisierung sind wirklich immer noch wir Lehrkräfte, die sich darauf ausruhen, dass es „schon immer gut so gelaufen ist wie es war.“
Wagen wir abschließend einen Blick in Richtung Zukunft: Wie sieht ihre Vision der Schule der Zukunft aus? Die perfekte Schule der Zukunft hätte Mitbestimmung von Kindern in jedem Gremium. Demokratie in der Schule zu leben mit Kindern als Mitbestimmungsmitglieder, die nicht nur gehört werden, sondern auch mitbestimmen und mitgestalten, ist für mich die Zukunft. In diesem Schuljahr habe ich einen Schulleitungsbeirat einberufen. Darin sind Kinder aus jeder Jahrgangsstufe, mit denen ich mich rückkopple.
Schule der Zukunft bedeutet auch Partizipation und Kreativität zu leben und Räume zu öffnen, dass man das Schulgebäude als Ausgangspunkt für das Lernen betrachtet, aber auch die Schule für die Wirtschaft und die Unternehmen öffnet. Die Kinder müssen in die Welt hinaus und Verantwortung übernehmen für bestimmte Projekte – so etwas wie Herausforderungsprojekte. Auch der Lehrplan müsste komplett verändert werden. Auch baulich hat sich die Schule der Zukunft verändert. Wenn ich Kreativität erzeugen will, muss ich auch kreative Arbeitsmöglichkeiten schaffen. Die Holzstühle, die Tische und alles guckt nach vorne – das ist möglicherweise nicht mehr zeitgemäß. Im Grunde ist eine Schule der Zukunft eine Schule mit demokratischer und ethischer Grundhaltung in einer Kultur der Digitalität mit der Möglichkeit, lebenslanges Lernen zu verankern und auf den Weg zu bringen und die Gesellschaft miteinander zu verbinden.