Eine unerwartete Würdigung
Als die Corona-Pandemie zu Beginn des Jahres die Schulen fest in ihrem Griff hatte, erlebten die meisten Schülerinnen und Schüler ihren Unterricht aus den heimischen vier Wänden heraus. Videokonferenzen und Wechselunterricht prägten den Schulalltag und sorgten für Tristesse. Gut, wenn man in solchen Zeiten eine Lehrerin wie Gabriele Hartleif hat.
„Beim Distanzlernen konnten wir sehr viel IServ nutzen, das hat uns wirklich geholfen“, erinnert sich Hartleif im Gespräch mit Just School. Neu war diese Erfahrung für die Grundschullehrerin der Grundschule Amshausen in Steinhagen nicht. Schon vor der Corona-Pandemie war ihre Schule im Landkreis Gütersloh, Nordrhein-Westfalen, das Thema Schuldigitalisierung aktiv angegangen. Die Gemeinde hatte die digitale Schulplattform IServ für alle Grundschulen, Gymnasien und Realschulen angeschafft. Dazu gab es auch iPads für Kinder, deren Familien es finanziell nicht möglich war, selbst eines zu kaufen. Man sah sich gut gerüstet in der Schuldigitalisierung. Und doch fehlte plötzlich etwas Wichtiges in den Zeiten von Covid-19.
Die eine Hälfte der Klasse saß im Wechselunterricht daheim vor dem Bildschirm, während die anderen Kinder im Klassenraum saßen. „Gefühlt waren wir alle zusammen“, beschreibt Hartleif die Situation, aber: „Tatsächlich und trotz aller Anstrengungen sind die Kinder sehr vereinsamt. Ein Gemeinschaftsgefühl kam überhaupt nicht zustande.“
Eines Tages baten die Schülerinnen und Schüler ihre Lehrerin, eine Geschichte aus einem Buch vorzulesen. Gabriele Hartleif, der das Lesen sehr am Herzen liegt, konnte diese Bitte nicht ausschlagen. Doch nun stand sie vor einer logistischen Herausforderung: Durch die Trennung der Klasse im Wechselunterricht hätte sie jedes Wort, jeden Satz, jede Seite doppelt vorlesen müssen. Und so schlug sie – zunächst eher im Scherz – vor, dass alle interessierten Kinder ihrer Klasse sich abends um halb sieben Uhr in einer Videokonferenz treffen könnten, in der sie ihnen vorlas. Die „Vorlese-Lehrerin“ war geboren.
Mit dem iPad ins Bett
Gabriele Hartleif traf bei ihren Schülerinnen und Schülern sofort einen Nerv und weckte Begeisterung. An manchen Abenden las sie über eine Stunde lang und das über Wochen und Monate. Mit ihrem gemeinsamen Ritual konnten die Schülerinnen und Schüler ihrer Klasse gemeinsam Bücher erleben, die sie so im normalen Unterricht weder in der Menge noch in der Intensität geschafft hätten. „Wir hatten in der Zeit tatsächlich so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl als Klasse, obwohl wir gar nicht zusammen waren“, erinnert sich die erfahrene Pädagogin, die sich als Mitglied der SPD-Fraktion im Stadtrat von Steinhagen auch für die Schulkultur einsetzt. Nebenbei diskutierte Hartleif mit ihren Schülerinnen und Schülern das Buch des Vorabends und teilweise nahmen die Kinder das iPad schon mal mit ins Bett, um von dort aus ihrer Vorlese-Lehrerin zu lauschen.
„Manchmal haben sich die Kinder schon vor halb sieben abends getroffen, um sich über das bisher Geschehene auszutauschen und sich gegenseitig zu fragen, was wohl als nächstes passieren würde“, so die Vorlese-Lehrerin, für die diese Abende auch persönliche Highlights waren: „Es war abends immer eine unglaublich schöne Stimmung, wenn ich gelesen habe. Ich habe das wirklich gern gemacht!“, bestätigt sie.
Aber nicht nur die Kinder hatten Spaß, auch deren Eltern liebten das abendliche Ritual. „Die Eltern sind irgendwann auf mich zugekommen und haben mir diesen Oscar überreicht“, berichtet Hartleif. Eine schöne Geste, mit der sie niemals gerechnet habe.
Keine Angst vor neuen Medien
Auch fernab ihrer mittlerweile legendären Vorleseabende weiß Gabriele Hartleif, dass das Thema Schuldigitalisierung gekommen ist, um zu bleiben, und sie sich selbst auch langfristig damit auseinandersetzen wird. „Ich glaube, ein Leitmotiv sollte immer sein, neugierig zu bleiben und keine Angst vor den neuen Medien zu haben“, betont sie die aus ihrer Sicht wichtigste Empfehlung für alle Kolleginnen und Kollegen. „Wenn sich jemand, der so lang in diesem Beruf arbeitet wie ich, trotzdem umstellen kann und die Chancen darin erkennt, dann können wir das von den jüngeren Kolleginnen und Kollegen erst recht erwarten“, fordert Hartleif, die beobachtet hat, dass es durchaus nicht nur die älteren Kollegen und Kolleginnen sind, denen es manchmal noch recht schwer fällt, sich auf die neuen Medien einzulassen.
„Es hat jetzt ein Prozess stattgefunden, der losgetreten wurde und den man jetzt nicht mehr aufhalten kann“, sagt sie. Diese Entwicklung könne man nicht zurückdrehen, man müsse jetzt aus pädagogischer Sicht die richtigen Schlüsse daraus ziehen: „Es geht darum, die digitalen Medien schon während der Planung im Kopf zu haben und sich genau zu überlegen, wo man sie sinnvoll einsetzen kann und wo es mehr Sinn ergibt, als ein Buch zu Hand zu nehmen. Das heißt aber nicht, dass das Buch komplett abgelöst wird!“, hebt sie als Erkenntnis hervor.
„Muss mich vom Frontalunterricht lösen“
Für Hartleif die größte Erkenntnis aus der Pandemie? „Digitalisierung befreit nicht davon zu sagen: ‚Ich möchte einen vernünftigen Unterricht machen.‘ Ich muss mich vom Frontalunterricht lösen. Digitalisierten Unterricht kann ich zwar auch streng im Frontalunterricht durchführen, aber zu behaupten, der sei automatisch zeitgemäß, das ist ein ganz großer Irrtum.“
Für die Grundschullehrerin ist klar, dass es hierbei auch um Individualisierung geht, die für die Kinder wichtig sei. Herauszufinden, wo die Kinder hier stehen und wo sie noch Bedarf haben, sei laut Hartleif essentiell: „Es ist ein Irrglaube zu denken, dass alle Kinder mit einem bestimmten Niveau zu mir in die Schule kommen. Die Schülerinnen und Schüler werden niemals auf einen identischen Stand gebracht werden können, genau wie Erwachsene. Wir sind alle individuell. Bildung muss sich dahin entwickeln die Frage zu beantworten: „Welcher Schüler und welche Schülerin hat welchen Bedarf? Und dabei kann uns die Digitalisierung tatsächlich helfen.“ So ginge es in erster Linie darum, Wege aufzuzeigen, wie die Schülerinnen und Schüler besser lernen und ihr Wissen erweitern können. „Und das ist sehr vielfältig und sehr unterschiedlich.“
Trotz all der neuen Möglichkeiten, betont Hartleif, sei es wichtig, dass die Kinder weiterhin in die Schule kommen und das Lernen von und mit anderen weiter im Mittelpunkt steht. Aber mithilfe des Internets und der verschiedenen Plattformen könne man die Kinder auf ihrem Weg individuell unterstützen. „Das ist für mich Lernen der Zukunft!“, sagt die Vorleselehrerin Gabriele Hartleif resümierend.