„Das pädagogisch-didaktische Ende des Spektrums“
Das Arbeitszimmer von Oliver Kracke ist schon ein wenig beeindruckend und vielleicht auch untypisch für einen Lehrer. Man bekommt eher das Gefühl eines Studios vermittelt – hier stehen Musikboxen, da Bildschirme, dort ein paar technische Gimmicks. Mittendrin sitzt der 39-Jährige und füllt all diese technischen Spielereien mit Leben. Der digitalaffine Pädagoge gehört zur Speerspitze einer neuen Generation von Lehrerinnen und Lehrern, die nicht zuletzt aufgrund der Pandemie-Situation mit den vielfältigen Möglichkeiten der digitalen Welt herumexperimentieren und immer wieder neue kreative Ansätze für ihren Unterricht daraus ziehen.
Mit Beginn des Schuljahres war in Schwarmstedt eine neue Stelle „Digitalisierung und Informatik“ ausgeschrieben worden. Da niemand sich auf den Posten bewarb, griff Kracke zu. In der Arbeitsgruppe „Neue Medien“ an der Wilhelm-Röpke-Schule arbeitet er seitdem Hand in Hand mit Schuladministrator Jan Fischer, „auch was die IServ-Sachen angeht“, betont er. Kracke hält auch den Kontakt mit dem Schulträger im Heidekreis. „Ich bin das pädagogisch-didaktische Ende des Spektrums“, lacht er.
Lehrerkräfte vs. Digitalisierung
Wie unterschiedlich Lehrerinnen und Lehrer dem Thema Digitalisierung gegenüberstehen, kennt Oliver Kracke aus eigener Erfahrung nur allzu gut. Das Spektrum reiche dabei von „Das ist bald wieder vorbei, wozu soll ich mir das aneignen?“ bis hin zu „Kolleginnen und Kollegen, die nicht mal mit einem Smartphone in den Lockdown gestartet sind und mittlerweile bei einem Messenger-begleiteten Unterricht angekommen sind“, hat Kracke beobachtet.
Die schulinternen Lehrerfortbildungen für IServ hätten enorm dazu beigetragen, dass die Akzeptanz für digitalen Unterricht bei den Lehrkräften gestiegen sei. „Es wurde darauf geachtet, dass für jedes Niveau etwas angeboten wurde“, sagt er und hebt hervor, dass nicht nur Lehrerinnen und Lehrer, die noch bei den Basics stünden, abgeholt werden, sondern auch die, die sich bereits mit tiefergehenden Fragestellungen beschäftigt haben. Der Norddeutsche führt an, dass mit jeder weiteren Woche des Lockdowns interessierter mit den digitalen Möglichkeiten gearbeitet werde und dabei spannende Sachen entstehen würden.
Entfesselung dank des Clubhouse-Lehrerzimmers
Oliver Kracke selbst ist da schon ein paar Schritte weiter. Vielleicht sogar ein paar Lichtjahre. „Erst habe ich gedacht, ich könnte den normalen Unterricht in die Videokonferenzen übertragen. Dann habe ich bemerkt, dass es durchaus spannendere Ansätze gibt, wenn man andere Tools einbindet. Und dann denkt man Unterricht eben anders“, erinnert er sich und demonstriert am konkreten Beispiel, was er dabei im Sinn hat. Über eine Open Broadcaster Software (OBS) steuert Kracke via virtueller Kamera ein sogenanntes Streamdeck an, kann damit Einblendungen in seine Videokonferenzen integrieren und das in Echtzeit! „OBS ist kostenlos“, freut sich Kracke, der lediglich das Streamdeck bezahlen musste, ein Gerät, wie es Youtuber verwenden.
„Die Entfesselung dieses Levels macht mir einfach Spaß“, gesteht der selbsternannte Technik-Nerd. Ein Besuch der Premiere des „Digitalen Clubhouse-Lehrerzimmers“ habe ihm seinerzeit die Augen geöffnet: „Da war jemand von der nichtstaatlichen Organisation ‚Netzwerk Digitale Bildung‘ dabei, der hat mich gleich als Moderator eingeladen“, erinnert sich Kracke. Seitdem trifft man sich jeden Mittwoch im virtuellen Diskussionsraum. „Dieses Netzwerk und der Austausch der Ideen sind unheimlich wertvoll“, betont er. Weil sich hier Lehrer(innen) aus ganz Deutschland austauschen, werde vieles sehr viel weitergedacht, „damit letztendlich die Unterrichtsqualität davon profitieren kann.“
Lernen in der eigenen Geschwindigkeit
Rückblickend hat die Covid-19-Pandemie für Oliver Kracke „extrem viele Kräfte freigesetzt“. Weil das bisherige „soziale Lernen“ aktuell nicht stattfinden kann, ist bei ihm die Erkenntnis entstanden, dass man im Distanzunterricht viel mehr schafft, weil die Ablenkungen des regulären Unterrichts kaum oder nur begrenzt vorhanden sind. Besonders spannend findet Kracke, dass auch bei den Schülerinnen und Schülern ein Umdenken stattgefunden habe. „Sie äußern zuweilen den Wunsch, sich bei der Rückkehr in den Präsenzunterricht umsetzen zu dürfen, weil sie ohne ihre bisherige Sitznachbarin oder ihren bisherigen Sitznachbar besser und aufmerksamer lernen würden.“
Aus Pädagogensicht sei ihm überdies aufgefallen, dass die weniger angeleiteten Aufgaben deutlich wertvoller sind als manche Ergebnisse, die er den Kindern und Jugendlichen im normalen Unterricht vermittelt. „In Englisch habe ich den Schülerinnen und Schülern eine Zeitform nicht erklärt, sondern ihnen als Aufgabe mitgegeben, diese selbst zu recherchieren und bis zur nächsten Stunde anwenden zu können“, erläutert Kracke am konkreten Beispiel. Der Vorteil dieser Methode liegt für ihn auf der Hand: „Die Schülerinnen und Schüler haben jetzt die Zeit, in ihrer eigenen Geschwindigkeit zu lernen und zu verstehen.“
Das als „Flipped Classroom“ anerkannte Konzept sei ein gutes Beispiel für „eine Unterrichtsmethode des integrierten Lernens. Die Hausaufgaben und die Stoffvermittlung werden insofern vertauscht, als dass die Lerninhalte daheim von den Lernenden erarbeitet werden und die Anwendung im Unterricht geschieht“. Darüber hinaus hat Kracke bei dem einen oder der anderen beobachtet, dass die Lernleistungen besser ausfallen als vor Ort in der Schule. „Sie holen sich ihre Informationen links und rechts und starten wirklich phantastisch informiert in den Englisch- oder Politikunterricht.“
Augen zu und durch?
Natürlich weiß auch Oliver Kracke um die negativen Auswirkungen des Distanzlernens. „Die sozialen Aspekte leiden unter dem Lockdown. Nicht alle Schülerinnen und Schüler haben ein schönes Zuhause und nicht jeder ist gern daheim. Für viele war die Regelmäßigkeit des Schulbesuchs etwas, das sie durch den Alltag geführt und ihnen Struktur gegeben hat“, zählt Kracke auf.
Aber: „Wir haben eine Pandemie und da muss man jetzt einfach das Beste daraus machen“, betont Kracke hinsichtlich einer gewissen Verantwortung als Lehrkraft und ergänzt: „Das Beste heißt eben auch, mit den Möglichkeiten zu wachsen, zu forschen und auszuloten – immer mit dem Blick darauf: Was macht nach Corona noch Sinn?“.
„Keine Angst vor Fehlern haben!“
Seinen Kolleginnen und Kollegen rät Oliver Kracke, keine Angst zu haben, in dieser Zeit auch mal etwas falsch zu machen. Auch müsse man sich freimachen von klassischen Bewertungsgedanken. „Für mich war es eine sehr große Befreiung des digitalen Arbeitens, sagen zu können: ‚Es geht jetzt in erster Linie nicht darum, am Ende eine Klassenarbeit zu schreiben, sondern dass die Kinder etwas lernen!“
Auch ginge es nicht immer darum, als Lehrkraft mit dem technischen Wissen der Schülerinnen und Schüler in Bezug auf digitale Inhalte mithalten zu können. Auch muss man dabei nicht zwingend bei TikTok oder Instagram präsent sein. „Manchmal reicht es auch, wenn man dem Ganzen zumindest auf der Spur ist und sich ein Konzept davon macht“, so Kracke, denn: „Als Lehrer müssen wir uns klar darüber werden, dass wir den Dingen nicht zuvorkommen, sondern lebenslang lernen und neuen Technologien offen gegenübertreten sollten.“