»Die Beschäftigung und Anwendung von Digitalisierung im Unterricht ist eine lebenslange Aufgabe«
Jan Lilje, Sie arbeiten als Medienpädagogischer Berater, Dozent in der Lehrer-bildung und Lehrkräftefortbildung. Geben Sie uns einen kurzen Überblick über Ihre berufliche Tätigkeit und darüber, wie Sie dorthin gekommen sind? Ich bin Medienpädagogischer Berater für Schulen, Träger der Erwachsenenbildung (VHS) und weitere Bildungseinrichtungen – zum Beispiel die Kreismusikschule – hier im Landkreis in Mecklenburg-Vorpommern. Darüber hinaus bin ich seit einigen Jahren bundesländerübergreifend als Dozent in der Lehrerbildung und in der Lehrkräftefortbildung tätig.
In den zentralen Handlungsfeldern Digitales Lehren-Lernen, Bildung in der digitalen Welt/Medienbildung und Digitale Schulentwicklung unterstütze ich Lehrkräfte, Schulleitungen und weitere pädagogische Fachkräfte wie Kursleiter(innen) bei der didaktischen Planung und Umsetzung von digitalen Lehr-Lernszenarien, in der Auswahl und Nutzung von Hardware (beispielsweise Tablets), Software/Apps sowie geeigneten digitalen Lehr-Lernmaterialien und in der Erstellung eigener digitaler Lernmedien (zum Beispiel Lernvideos, interaktive Übungen, eBooks).
Mein Hintergrund im Studium lag in der Erwachsenenbildung – damals noch auf Diplom – und ich habe mich schon vor mehr als zehn Jahren mit Digitalisierung im Bildungsbereich beschäftigt, als unter anderem mobile Endgeräte wie Smartphones und Tablets die Gesellschaft, unsere Kommunikation, unsere Arbeitswelt und den Bildungsbereich immer mehr geprägt haben. Über das Arbeitsfeld Digitalisierung in der Hochschuldidaktik bin ich dann in die Lehrerbildung mit den Handlungsfeldern Digitales Lehren-Lernen, Bildung in der digitalen Welt/Medienbildung und Digitale Schulentwicklung gekommen, unter anderem an der Schnittstelle zu Fragestellungen von Heterogenität und Inklusion.
Sie haben davon berichtet, dass Sie an der Implementierung der Digitalisierung in den einzelnen Fächern im Rahmen der Lehrkräfte-Ausbildung beteiligt waren. Was genau waren die Ausgangsüberlegungen hierfür? Da gab es verschiedene. Eine davon: Man muss im Lehramtsstudium eine Basis für Digitales Lehren-Lernen und Bildung in der digitalen Welt/Medienbildung im Unterricht legen. Die Studierenden erwerben somit Basisqualifikationen für eine sinnvolle Anwendung der Digitalisierung in ihren jeweiligen Unterrichtsfächern. Wir haben deshalb neben der fächer-übergreifenden Perspektive von Digitalisierung auch die fächerbezogene Perspektive in den Fokus genommen, weil auch durch Studien – etwa durch die Vodafone Stiftung zu Digitalen Optimalschulen – deutlich geworden ist, dass zum Beispiel die fachdidaktische Perspektive im Fach Englisch andere didaktische Ausgangsbedingungen für Digitalisierung im Unterricht hat als im Fach Mathematik. Deshalb sehen auch die Kompetenzerwartungen an einen digital gestützten Unterricht jeweils anders aus. Das heißt, wenn ich eine Unterrichtsstunde in Form einer Videokonferenz umsetze, habe ich eine fächerübergreifende Perspektive, da dieses Format unabhängig von Unterrichtsfach ist. Die Fächerperspektive kommt dann natürlich bei den fachdidaktischen Zielen und curricularen Inhalten zum Tragen.
So schaue ich als Lehrkraft im Bereich Sprache darauf, wie ich die Sprachentwicklung oder flüssiges Sprechen digital – beispielhaft durch das Erstellen eigener Podcasts – unterstützen kann. In Mathematik wählen Lehrkräfte andere mediendidaktische Herangehensweisen, beispielsweise über Geometrie- oder Rechen-Anwendungen oder Apps.
Betrachte ich Digitalität im Unterricht fächerübergreifend, können unabhängig vom Unterrichtsfach verschiedene digitale Lehr-Lernszenarien für die mediendidaktische Umsetzung von Unterricht genutzt werden, so etwa Videokonferenzen, digital gestütztes Üben oder die Dokumentation von Lernprozessen, kollaboratives Lernen und Problemlösen, erweiterte Realität oder Lernvideos sowie interaktive Lernmodule.
Digitales Lehren und Lernen hat damit immer zwei Perspektiven: die fächerübergreifende Perspektive und die Fächerperspektive. Darüber hinaus gibt es eine weitere sehr wichtige Perspektive von Digitalität im Unterricht: die Förderung der Medienkompetenzen von Schüler(inne)n. Bei der Perspektive von Bildung in der digitalen Welt/Medienbildung stehen dann andere didaktische Ziele im Vordergrund, zum Beispiel eine kritische Medienaneignung wie bei den Themen Fake News oder Soziale Medien.
Wenn sich Studierende im Lehramtsstudium dann beispielsweise in einem Modul mit dieser Perspektive, den didaktischen Zielen und Themenfeldern beschäftigen, geht es immer auch darum, in einem ersten Schritt die eigenen Medienkompetenzen und Zugänge zur digitalen Welt zu reflektieren. Das kann unter anderem durch digitale Praxisformate im Studium gefördert werden, etwa in Form der Erstellung von Videos als Medienpraxis oder der eigenen Reflexion des Medienverhaltens zum Beispiel in den Soziale Medien.
Um die Basis für die verschiedenen Perspektiven auch konzeptionell zu schärfen und in diese in den verschiedenen Phasen der Lehrkräfte Professionalisierung sichtbarer zu machen, habe ich im Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen den Orientierungsrahmen Didaktische Praxispfade für digitales Lehren-Lernen und Bildung in der digitalen Welt/Medienbildung entwickelt, der auch als eine didaktische Basis in meinen Seminaren und meinen Lehrkräftefortbildungen dient.
Dieser Orientierungsrahmen hat zum Ziel, verschiedene Aspekte und Planungselemente - also zum Beispiel die Fachperspektive, die Schulformen, die Heterogenität der Schüler(innen) sowie Inklusion, die Auswahl der Endgeräte sowie die digitalen Kompetenzen der Lehrkräfte¬ – bei der Unterrichtsplanung sowie bei der digitalen Schulentwicklung zu berücksichtigen und die didaktische Planung in den Handlungsfeldern fokussierter zu gestalten. So wird auch klar, dass sich in Grundschulen Digitalität ganz anders ausgestaltet als in der Sekundarstufe I oder Sekundarstufe II, und auch jede Schule und jede Lehrkraft für ihre Lerngruppen und Ihre Unterrichtsfächer eige-ne Wege findet, Digitalität zu nutzen.
Wie gestaltet sich der (fach-)didaktische und methodische Einsatz im Rahmen der Lehrkräfte-Ausbildung und -Weiterbildung? Wenn wir im Rahmen der Lehrerbildung in den Seminaren modellhafte Unterrichtsentwürfe gestalten, geht es im Kern immer darum, Tools, Plattformen oder digitale Lehr-Lernmaterialien didaktisch sinnvoll einzusetzen. Sprich: Tools oder Medien werden nicht der Digitalisierung wegen eingesetzt, sondern passend zum (fach-)didaktischen Ziel bewusst ausgewählt. Dann ist Nutzung auch didaktisch sinnvoll und vor allem auf der Seite der Schüler(innen) kompetenzorientiert und lernförderlich.
Zunächst wird also in meinen Lehrveranstaltungen das didaktische Ziel inklusive der Kompetenzorientierung und Berücksichtigung von Heterogenität formuliert, darauf der Unterrichtsentwurf aufgebaut und dieser dann schließlich im Plenum präsentiert oder über Erklärvideos bereitgestellt.
Die gemeinsame Reflexion dieser Unterrichtsentwürfe ist dann besonders spannend, da auch die Perspektiven der Studierenden auf die didaktischen Konzepte oder Ansätze unterschiedlich sind. Ähnlich ist es in der Lehrkräftefortbildung, wo ich ebenfalls die didaktischen Ziele in den Vordergrund stelle und dann anhand der konkreten Praxis mit den Teilnehmer(inne)n schaue, welche Konzepte und Formate in der Praxis unter den Rahmenbedingungen umsetzbar und sinnvoll sind.
Weshalb ist eine solche Implementierung der Digitalisierung in den einzelnen Fächern aus Ihrer Sicht schon bereits in der Lehrkräfteausbildung und später dann in der Lehrkräfteweiterbildung sinnvoll? Für mich ist die Beschäftigung und Anwendung von Digitalisierung im Unterricht eine lebenslange Aufgabe. Die Herausforderung an Digitalisierung im Kontext Unterricht ist einfach die Dynamik. Wir haben heute schlichtweg ganz andere Entwicklungen und Themen als zum Beispiel vor fünf oder zehn Jahren. So sind etwa KI, Data Literacy, Soziale Medien heute viel stärker im Fokus. Genau deshalb ist es immer wichtig, am Ball zu bleiben.
Fachinhalte ändern sich in manchen Unterrichtsfächern häufig nicht grundlegend. Im Bereich der Digitalisierung geht es einfach schneller. Es gibt neue Entwicklungen, digitale Tools, Apps oder Plattformen, die den Unterricht bereichern können, aber auch die Medienlandschaft und das Medienverhalten von Schüler(inne)n verändern sich zum Beispiel über Streaming oder neue Plattformen im Bereich der Sozialen Medien.
Wie gehen Sie ganz persönlich mit dieser Dynamik um? Was empfehlen Sie den Lehrkräften an den Schulen? Ich selbst plane mir regelmäßig Zeiträume ein oder nehme mir jeden Monat idealerweise einen Tag, an dem ich unter anderem Tools, Apps, Plattformen oder digitale Lehr-Lernmaterialien sichte und ausprobiere. Das ist für Lehrkräfte natürlich auch wichtig, aber häufig fehlt hierfür die Zeit. Dann ist es immer sinnvoll, sich mit Kolleginnen und Kollegen zu vernetzen, zum Beispiel in den Fachschaften. Hier können dann neue digitale Lehr-Lernmaterialien auf Plattformen gesichtet werden oder jedes Mitglied in einer Fachschaft stellt fokussiert neue Apps, didaktische Konzepte oder interessanteste Neuheiten in kurzen Austauschrunden vor.
Hier lieber öfter und kürzere Formate für den Austausch als zeitintensive Meetings.
Sinnvoll ist auch ein schulinternes Wissensmanagement und ein Pool an digitalen Lehr-Lernmaterialien über ein Lernmanagementsystem. Dann sammelt nicht nur eine Lehrkraft, sondern alle Kolleginnen und Kollegen können gemeinsam arbeiten und die Inhalte wiederfinden. Wichtig ist, dass es für die jeweilige Institution passt und dabei niedrigschwellig bleibt.
Ein weiterer Schlüssel kann es auch sein, die Schülerinnen und Schüler in die Suche von Lernmaterialien einzubeziehen, denn diese nutzen die Digitalität beim Lernen ohnehin. Wenn diese zum Beispiel eine Suchaufgabe für Erklärvideos erhalten, bekomme ich als Lehrkraft gleich bis zu 28 oder mehr Möglichkeiten von den Schülerinnen und Schülern präsentiert. Diese kann ich dann selbst prüfen und direkt mögliche Fehlerquellen bei den Schüler(inne)n ermitteln. Zwei Effekte lassen sich hier ausmachen; Als Lehrkraft finde ich heraus, womit Schüler(innen) lernen oder wo sie sich im digitalen Raum informieren und ich bekomme darüber hinaus selbst vielleicht auch noch neue Impulse für meinen eigenen Unterricht.
Ganz wichtig ist eine strukturierte und dauerhafte digitale Schulentwicklung als Teil des Schulprogramms. Zentrales Element für die digitale Weiterentwicklung von Schulen ist immer auch die Zusammenarbeit und Vernetzung im Kollegium, denn das Rad muss nicht immer neu erfunden werden. Das Stichwort ist hier: Teilen, teilen, teilen! Das ist sehr wichtig.
Gerade für die einzelnen Unterrichtsfächer bietet Digitalität vielfältige Zugänge zu Lerninhalten. Allein in der Corona-Pandemie haben beispielsweise viele Museen und andere außerschulische Lernorte auch gute digitale Lehr-Lern-Materialien entwickelt, die Lehrkräfte natürlich auch weiterhin als Ressource nutzen können. Da bieten sich viele Möglichkeiten, nicht nur, weil man nicht überall hinfahren kann. Digitalität bietet generell immer wieder neue Dimensionen des Lehrens und Lernens.
Sie sprechen von neuen Dimensionen des Lehrens und Lernens. Wie meinen Sie das? Der Nutzen der Digitalität ist im allerbesten Fall gleich auf verschiedenen Ebenen sichtbar, vor allem Multimedialität, Virtualität, Interaktivität, Aktualität, Individualität/Adaptivität.
Beispielsweise hat ein Schulbuch immer nur eine Seite zur Verfügung. Das wäre in der Digitalität die 2D-Ebene des PDF-Formats.
Gutes digitales Lehr-Lernmaterial zeichnet sich vor allem durch Multimedialität, Virtualität und Interaktivität aus. Eine Lehrkraft kann zum Beispiel über interaktive Lernsoftware selbst Lernmodule für Schüler(innen) erstellen, diese medial vielfältiger aufbereiten und auch immer wieder anpassen und für verschiedene Lernniveaus – individualisiert und inklusionsorientiert – aufbereiten. So bin ich auch ein Stück weit unabhängiger und freier in meiner Auswahl oder Gestaltung von Lehr-Lernmaterialien – gerade auch bei Themen, bei denen es nur bedingt analoge Lernzugänge oder wenige bestehende Lernmedien gibt.
Darüber hinaus gibt es auch schon Apps und Lernsoftware, die adaptiv sind, also das Lernverhalten von Schüler(inne)n in die digitalen Übungsprozesse einbeziehen und das Schwierigkeitsniveau von Aufgabenstellungen individuell anpassen.
Auch in Unterrichtsfächern, die auf den ersten Blick wenig mit Digitalität zu tun haben, können Potentiale genutzt werden. Wenn ich beispielsweise im Sportunterricht Bewegungsabläufe analysieren möchte, so kann ich das zeit- und ortsunabhängig mit einem Mobilgerät umsetzen.
Weiterhin bin ich im Rahmen der Digitalität in vielen Fällen immer auf dem aktuellen Stand, was beispielsweise Daten betrifft. In Schulbüchern stehen geografische oder andere Daten, die zu einem bestimmten Zeitpunkt können. Nutze ich eine App oder eine Plattform, in denen immer - verifizierte - aktuelle oder sogar Echtzeitdaten wie Geoinformationen oder auch Bevölkerungsstatistiken zur Verfügung stehen, bin ich stets auf dem aktuellen Stand.
Über Digitalisierung eröffnen sich auch zunehmend ganz neue Lernräume, beispielsweise durch Simulationen in 3D, Augmented Reality (AR) oder Virtual Reality (VR). Ich kann Lehr-Lerninhalte somit auch über digitale Formate erlebbar machen. Zurzeit finde ich es sehr spannend, mit einer aktuellen Klima-App oder einer App in Geschichte Menschen und Szenarien in den Klassenraum zu holen - ich kann durch die Visualisierung und Virtualität ein Erlebnis erzeugen, das man sonst nicht sichtbar machen könnte.
Sie bilden ja auch viele Lehrkräfte weiter. Was ist da besonders wichtig für Sie? In der Regel ist in den Weiterbildungen die Motivation der Lehrkräfte am höchsten, wenn ich sie in ihrem eigenen Unterrichtsfach abhole. Das hat - neben der digitalen Perspektive für den Lehr-Lernprozess - auch ein entdeckendes Element für die Lehr-Lerninhalte. Als Lehrkraft kann ich mein Unterrichtsfach immer wieder auch über die digitale Welt neu entdecken und didaktisch aufbereiten. Und diese Neugier und Offenheit von Lehrkräften spüren auch die Schülerinnen und Schüler im Unterricht. Diese merken, wenn ich mich als Lehrkraft immer wieder neu mit meinem Fach auseinandersetze und spüren, wenn ich von meinem Fach begeistert und bereit bin, es weiterzuentwickeln. Der größte Stolperstein für einen digital gestützten Unterricht kann da nur ich selbst sein, wenn ich mir im Weg stehe und den Blick nicht nach links und rechts richte.
Wenn Sie drei Jahre weiterschauen, was wäre Ihre Wunschvorstellung für die Lehrkräfte und deren Schüler(innen) mit Blick auf die Digitalisierung? Meine Wunschvorstellung wäre es, dass die Potentiale von Digitalität in allen Bildungsbereichen und jedem Unterrichtsfach noch weiter erschlossen und implementiert sind. Wichtig ist dabei, die Zielgruppe - die Schüler(innen) und deren Zugänge zur Welt und zu sich selbst - im Blick zu behalten und didaktischen Möglichkeitsräume auszuloten. Digitalität bietet dabei viele Möglichkeiten für Schüler(innen), die Welt zu erschließen. Darüber hinaus können Lehrkräfte die digitale Welt als Teil der Lebenswelt zum Unterrichtsgegenstand machen, etwas über ihre Schüler(innen) erfahren und auch ihre eigenen Unterrichtsinhalte durch vielfältige digitale Zugänge (Mediatheken, Lernplattformen, Augmented Realität) vielfältig und spannend aufbereiten.
Ich würde mir wünschen, dass das, was wir in Zeiten der Corona-Pandemie an positiven Effekten gesehen haben, anregt, auch Lehr-Lernformen im Unterricht immer wieder neu zu denken und die Möglichkeitsräume der Digitalität für Schule immer wieder neu zu erschließen. Am besten im Diskurs sämtlicher Professionen - zwischen den Lehrenden an der Universität, Studierenden, Schulleitungen und Lehrkräften.
Zur Person
Jan Lilje ist Medienpädagogischer Berater für Schulen und Bildungsinstitutionen,
Dozent, Berater und Trainer in der Lehrerbildung und Lehrkräftefortbildung. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt in den Feldern Digitales Lehren und Lernen, Bildung in der digitalen Welt/Medienbildung, Digitale Schulentwicklung, Digitale Lernwelten und Bildungsmedien, Augmented Reality/Virtual Reality, Digital Storytelling und Social Media.
E-Mail: info@jan-lilje.de
Web: Jan-Lilje.de