Die erschreckenden Zahlen: Bedarf ungleich Angebot
Deutschland hat zu wenige Lehrerinnen und Lehrer, das war schon vor dem Ausbruch von Corona ein Dauerthema. Durch die Pandemie wird der Mangel jedoch zu einem großen Problem für die Bildung. Zu welch dramatischer Entwicklung sich diese altbekannten Engpässe zukünftig zuspitzen werden, zeigte unlängst eine Modellrechnung der Kultusminister-Konferenz (KMK) .
So wird bei den sonderpädagogischen Lehrämtern davon ausgegangen, dass zwischen den Jahren 2020 und 2030 der Einstellungsbedarf nur zu 86,8 Prozent gedeckt werden kann. Bis einschließlich 2030 fehlen demnach im Schnitt jährlich bundesweit 500 Lehrkräfte in diesem Bereich. Bei den Lehrämtern für den Sekundarbereich II (berufliche Fächer) oder der beruflichen Schulen ist in diesem Zeitraum jährlich sogar mit 1.000 fehlenden Einstellungen bundesweit zu rechnen.
Im Vergleich zu den anderen Lehrämtern geht die KMK in ihrer Modellrechnung davon aus, dass Gymnasien und der Sekundarbereich II (allgemeinbildende Fächer) in den kommenden Jahren deutschlandweit ein »Überangebot« von jährlich mehr als 2.200 Lehrkräften verzeichnen werden. Zusätzlich fallen speziell im Westen Deutschlands steigende Zahlen bei Schülerinnen und Schülern ins Gewicht.
Dieser Zuwachs ist den Untersuchungen der KMK zufolge vor allem auf die erhöhte Zuwanderung von Kindern aus Flüchtlingsfamilien, geflüchteten Kindern sowie der Zuwanderung von schulpflichtigen Kindern, deren Familien aufgrund der EU-Binnenwanderung nach Deutschland ausgewandert sind, zurückzuführen. Auch die höhere Geburtenzahl ist dabei ein Faktor.
Bildungsforscher Klemm schlägt Alarm
Den Erkenntnissen des renommierten Bildungsforschers Klaus Klemm zufolge könnte sich der Lehrkräftemangel noch weitaus dramatischer entwickeln, als die von der KMK-Modellrechnung bis 2030 erwarteten 14.000 fehlenden Lehrkräfte. Bis zu diesem Zeitpunkt befürchtet Klemms Studie sogar 81.000 unbesetzte Stellen.
Doch wieso fallen diese Prognosen derart unterschiedlich aus? Zunächst einmal beschränkt sich Klemms Analyse auf das Bundesland Nordrhein-Westfalen (NRW), ließe sich nach Angaben des Bildungsforschers allerdings auch auf die anderen Bundesländer übertragen. So habe die KMK bei ihren Betrachtungen einige wesentliche Faktoren wie die Verkleinerung der Klassenfrequenzen nicht berücksichtigt. Fehlende Verringerungen bei der wöchentlichen Unterrichtsverpflichtung der Lehrkräfte oder das Fortschreiten auf dem Weg zur inklusiven Schule seien weitere Aspekte, die den Mangel an Lehrkräften zukünftig eher verstärken werden. Auch die wachsende Förderung von Kindern und Jugendlichen in »Brennpunktschulen« gehöre dazu.
Bundesweit fehlen MINT-Lehrkräfte
Bei der Betrachtung einzelner Schulfächer wird deutlich, dass der größte Lehrermangel die MINT-Fächer betrifft, also die Unterrichtsfächer aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Am Beispiel der weiterführenden allgemeinbildenden Schulen in NRW arbeitete Klemm im Auftrag der Deutsche Telekom Stiftung eine Prognose aus, die sich mit der Entwicklung des Bedarfs und des Angebots der MINT-Lehrkräfte beschäftigte.
Klemms Fazit liest sich mehr als ernüchternd: »Der Mangel bleibt – und wird noch größer. Ohne ein Gegensteuern werden die Schulen im Schuljahr 2030/31 nur ein Drittel der nötigen ausgebildeten MINT-Fachlehrkräfte zur Verfügung haben«, wird der Forscher in den Studienergebnissen zitiert.
Im Rahmen der Studie fand Klaus Klemm jedoch auch heraus, dass weniger Lehrkräfte altersbedingt aus dem Schuldienst ausscheiden könnten. So würden 64 Prozent der heutigen MINT-Lehrkräfte auch 2030/2031 noch ihrem Beruf nachgehen. Es sei aber auch abzusehen, dass »die Ausdünnung der MINT-Lehrkräfte an nicht-gymnasialen Schulformen deutlich stärker sein wird.«
Ebenso spricht Klemm von einem schwindenden Nachwuchs in den MINT-Fächern. Dies sei darauf zurückzuführen, dass »zuletzt immer weniger Studierende mit mindestens einem MINT-Fach eine Lehramtsprüfung absolviert haben.« Für NRW geht Klemm von jährlich 1.100 neu ausgebildeten MINT-Lehrkräfte aus, die zur Verfügung stehen werden. Gebraucht würden allerdings 3.300 Lehrkräfte.
Die Lehrkräfte sind erschöpft
Bis hierhin spielte die Corona-Pandemie in unseren Betrachtungen keine Rolle. Ihre Auswirkungen sind aber auch – oder besser: vor allem – an den Lehrerinnen und Lehrern nicht unbemerkt vorbeigegangen. Nicht nur die Gesellschaft im Allgemeinen, auch die Schulen im Speziellen stecken inmitten schwieriger Zeiten.
So kam in den vergangenen zwei Jahren zusätzlich zum bekannten Lehrkräftemangel erschwerend ein deutlicher Mehraufwand in der Unterrichtsgestaltung hinzu. Die Erschöpfung der Lehrerinnen und Lehrer spiegelt sich in ihrem seelischen und körperlichen Zustand. Dass es um den nicht gut bestellt ist, bestätigte kürzlich das Markt- und Meinungsforschungsinstitut forsa. Deren Befragung im Auftrag des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) legte dar, dass 50 Prozent der 1.300 befragten Schulleiterinnen und Schulleiter von langfristigen Krankheitsausfällen in ihrem Kollegium berichten können.
Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des VBE, sagte im Rahmen der Befragung: »Leider war das zu erwarten, was wir nun Schwarz auf Weiß vorliegen haben, wenn auch nicht in diesem Ausmaß. Die anhaltende Überlastung bereits vor Corona und der enorme Mehraufwand in der Pandemie machen die Lehrkräfte zunehmend krank.« Durch Inklusion, Integration und Demokratisierung steige die Mehrbelastung weiter. Zwei Drittel der Schulleitungen sehen hier eine Mehrbelastung für fast alle Lehrkräfte in ihren Schulen. Bei den Grundschulen ist diese Zahl mit 70 Prozent sogar noch höher.
Zudem fühlen sich Schulleitungen oftmals hilflos den Gegebenheiten ausgeliefert. Nur noch knapp ein Viertel sehen in ihrem Umfeld ausreichende Möglichkeiten zur Gesundheitsförderung. 2019 waren es immerhin noch 40 Prozent. Auch hier ist die Wahrnehmung an den Grundschulen noch drastischer. Nur jede fünfte Schulleitung kann hier nach eigener Aussage zufriedenstellend Einfluss auf die Gesundheit der Kolleginnen und Kollegen nehmen. Natürlich hat diese Entwicklung auch Auswirkungen auf die Berufszufriedenheit der Schulleiterinnen und Schulleiter. Jede fünfte Schulleitung gab demnach an, in zehn Jahren keine Schule mehr leiten zu wollen.
Für Udo Beckmann liegen mögliche Lösungen auf der Hand. Sie müssten von der Politik nur beherzt angegangen werden: »Neben Maßnahmen wie Supervision und Fortbildungen – und zwar müssen diese aus unserer Sicht auch während der Dienstzeit stattfinden können – braucht es vor allem eine Entlastung der Schulleitungen und Lehrkräfte.«